Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0479
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
436

Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

Nun ging der Kranke in seine Heimat zu seinen Eltern. Diese waren natürlicherweise unzu-
frieden. Sie haben ihn von jeher gedrängt, einen bestimmten Beruf zu ergreifen und waren
gegen die Philosophie. Er arbeitete nun regelmäßig auf einem Bezirksamt und nahm sich vor,
zur rechten Zeit das letzte juristische Examen zu machen.
Er las nichts Philosophisches mehr, hatte sein Selbstvertrauen in der Philosophie völlig ver-
loren, dachte jedoch viel über die Probleme nach und entwickelte die Ansätze, die bei ihm
immer aufgetaucht waren, zum Prinzip. Er wurde konsequenter Skeptiker. Während er in Dis-
kussionen, z.B. mit seinem Bruder, wohl eine Lust an seiner kritischen Schärfe empfand, war
ihm jedoch der Skeptizismus nicht eine bloße theoretische Spielerei, sondern eine erlebte Qual.
Er fühlte seit langem, daß er nichts endgültig für wahr halten konnte, daß er nicht bloß in der
Wissenschaft, sondern auch in der Lebensführung und der Kunst gegenüber keiner zuverlässi-
gen Stellungnahme fähig war. So zweifelte er an allem und trieb diesen Zweifel gelegentlich in
alle Konsequenzen: keinen Satz kann ich behaupten, nicht einmal diesen Satz, gar nichts kann
ich behaupten, es ist sinnlos mit mir zu reden, ich selbst tue Sinnloses, wenn ich anders als zum
augenblicklichen Vergnügen denke. Seine Freunde fanden den Standpunkt zwar unwiderleg-
lich und konsequent, meinten aber, die Durchführung sei nur im Irrenhaus möglich. Bei die-
sen Worten fällt dem Kranken plötzlich ein, wo er ist und er sagt verlegen: Ach, ich bin ja im
Irrenhaus.
Bei der Darlegung seines Skeptizismus kommt der Kranke besonders auf Kants Dialektik zu
sprechen, nämlich auf die Stellen, die den unendlichen Regressus in der Kausalität usw. behan-
deln,880 ferner auf alle die logischen Erwägungen, die irgendwo einen Zirkel ergeben.
Er war verzweifelt, verzweifelt an seiner Zukunft und am Leben. Doch war das nur eine Seite
seines Seelenlebens dieser Zeit.
Er wandte sich mehr literarischen Interessen zu und war empört, daß sein Vater dies »Roman-
lesen« so gering einschätzte. Er las viel solcher Sachen. Jetzt urteilt er über das Verhalten seiner
Verwandten in jener Zeit: sie hätten ihn wegen seiner Philosophie gehänselt, gemeint, er sei zu
genialisch, sei überspannt. Sein Freund und sein Bruder spöttelten gern, wenn auch nicht bos-
haft, sondern mit Gefühl und Sympathie für ihn. Jedenfalls meint er, sie hätten ihn »zu leicht«
behandelt. Nun ging er zur Regierung gleichsam zum Trotz, weil er meint, die andern glaubten,
er geniere sich nach dem Mißerfolg. Er ging regelmäßig, aber arbeitete überhaupt nicht zum
Examen. Da er für einen guten Juristen galt, glaubte er, es werde auch ohne das gehen; und er
ging mit dem Bewußtsein dem Examen entgegen: entweder mache ich I oder falle ich durch.
Während der Kranke mir bis hierhin seine Lebensgeschichte ohne Hinsicht auf die Krankheit
erzählte, gab er mir nun im weiteren eine Darstellung der Vorboten seiner Krankheit und der Psy-
chose selbst. Aus der Darstellung wird hervorgehen, wie weit er Einsicht für die Details besaß, wie
weit nicht.
Der Kranke ist lebhaft, sehr bereit, Auskunft zu geben. Er geht oft eilig im Zimmer auf und
ab, versetzt sich eifrig in die psychotischen Zustände zurück und schildert sie auf diese Weise
sehr anschaulich. Er steht seiner akuten Phase mit intellektuell voller Einsicht gegenüber und
hat selbst ein gewisses Interesse, die seelischen Vorgänge zu entwirren und zum Ausdruck zu
bringen. Dabei ringt er oft um das Wort, korrigiert sich manchmal, lehnt dargebotene Aus-
drücke ab. Man hat den Eindruck, daß die Vergegenwärtigung des Vergangenen bei ihm zwar
bestimmt ist, daß ihm aber bei seiner hohen Selbstkritik eine adaequate Schilderung schwer
fällt.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften