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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0483
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

(keine Intensitätsverstärkung usw.). Es war unheimlich. Ein Radfahrer fuhr über den Weg. Das
Licht der Laterne erschreckte ihn. Er hatte das Gefühl des Außergewöhnlichen, Übernatürli-
chen. Er dachte an die Möglichkeit, es sei ein Licht, mit dem man sie beobachte. Jedoch wurde
das nicht zu einem bestimmten Gedanken. Er fragte seine Schwester und ärgerte sich, daß sie
es bloß für eine Laterne erklärte. Er meinte, seine Schwester erlebe das gerade so wie er. »Daß es
eine Laterne war, das sah ich auch.«
Das Gefühl, seine Schwester erlebe geradeso wie er, war vorher auf das Lebendigste dagewe-
sen. Er fühlte in ihr eine Erweiterung ihrer Persönlichkeit, »oder so ähnlich«, die ihn nun vollstän-
dig verstände, die alle seine Stimmungsschwankungen genau mitmachte. Er glaubte dann, es
sei nicht seine Schwester. Er fragte sie direkt danach. Sie sah zwar so aus. Auf einmal war das
unheimliche Gefühl über ihn gekommen, ganz ohne Gründe, bloß als Gefühl. Dabei liebte er
diese Schwester, die doch nicht seine Schwester war, sehr. Er hatte Gedanken: Die äußere Figur
ist nebensächlich. Es gibt eine Möglichkeit des Seelenwechsels. Es sei eine andere Persönlichkeit
in seiner Schwester. Diese Persönlichkeit fühlte er dann gewissermaßen als seine eigene. Er fühlte
sich verdoppelt, aber andersgeschlechtlich verdoppelt. Dies Doppelgefühl war jetzt noch unklar,
wurde erst später deutlicher. Vielleicht blitzte es jetzt nur einen Moment auf. Dieses Gefühl des
Doppeltseins schwand jedenfalls nach 2 Minuten. Es blieb nur das Gefühl des Unheimlichen und
Außergewöhnlichen. Nach der Szene mit dem Radfahrer war er verstimmt. Er dachte, seine Schwe-
ster verstehe ihn nicht, oder sie verstehe ihn doch so gut und verstelle sich nur.
An diesem Tage sagte er auch abends zur Schwester unmittelbar nach der Radfahrerszene:
»Bin ich denn verrückt?« Darauf fühlte er einen heftigen Schmerz im Kopf, im Gehirn, als wenn
etwas zerstört werde. Er sagte weiter: »Es pressiert, ins Irrenhaus!« Er war sich ganz klar, daß die
Leute, besonders wenn sie alles wüßten, was er dachte, ihn für verrückt halten müßten. Er selbst
3/9 hielt sich aber nicht für verrückt. Er empfand seinen Zustand »als durchaus | wirklich« und dachte:
»ich bin wohl allein, aber warum soll ich das verrückt nennen«. Doch dachte er dann immer
wieder: alle anderen wissen es auch und verstellen sich. Die allgemeine Verstellung beunruhigte
ihn sehr, es war ihm alles unsicher.

Die akute Psychose
Am Sonntag, den 12. Mai, fuhr er nach dem Kurort. Auf der Eisenbahnfahrtbegannen die Erlebnisse
der akuten Psychose einen zusammenhängenden Charakter zu bekommen. Es war herrliches
Wetter, die Berge, der Sonnenschein waren wie Bilder von Thoma.885 Es war so schön, daß er das
Gefühl hatte vom Beginn des goldenen Zeitalters. Ins Abteil stiegen junge Leute ein, ein Mäd-
chen und ein Junge. Sie spielten Lieder auf der Harmonika. Diese ergriffen ihn merkwürdig tief.
Er bezog sie auf sich. »Es hat so was Kolossales ...« Er drehte sich herum und mußte weinen.
Dabei bemerkt der Kranke, daß er eigentlich früher nie Verständnis für Musik in ausgepräg-
ter Weise hatte. Er war immer der Literatur und der bildenden Kunst zugewandt. Nun begann
dies Ergriffenwerden durch Musik, das im weiteren Verlaufe noch eine große Rolle spielt.
Alle Bemerkungen, die gemacht wurden, bezogen sich auf ihn. Als er weinte, sagte der Junge:
»Hör auf, spiel was Lustiges.« Wenn ihn die Musik nicht berührte, hieß es: »Hast falsch gespielt.«
Meist reagierte er stark und differenziert in seinen Gefühlen. Wenn er nicht reagierte, hat alles
gelacht. Es wurden Anspielungen auf frühere Erlebnisse gemacht. Es kam der Gedanke: jeder
andere weiß alles von mir, die geringsten Kleinigkeiten; er schloß es aus den Anspielungen auf sol-
che Kleinigkeiten. - Er hatte das Gefühl, als ob er mit dem Zuge immer hin und her fahre, ein-
mal sagte man: »Das war St. Petersburg.« Einmal stieg er dann aus, besann sich aber und stieg
 
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