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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0484
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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wieder ein, und kam richtig nach dem Kurort. Es kam ihm vor, als ob alle Leute ihn gutmütig
hänseln wollten. Bei all diesen Vorgängen beherrschte ihn nun folgende Vorstellung: Ich und
alle (Ausnahmen siehe später) Leute sind in Wirklichkeit gestorben, in Wahrheit gibt es nur
noch die übersinnliche Welt. Raum und Zeit gibt es in Wirklichkeit nicht mehr. Alle Leute leb-
ten nach seinem Gefühl schon vollständig in der höheren Welt. Nur weil er so an der Welt
klebte, hat er Raum und Zeit »mitgenommen« und muß noch alles menschlich sehen. Er sei noch
Mensch, aber auch schon gestorben. Die Leute sind alle schon im Himmel. Er wird ihnen nach-
kommen, indem er sie alle noch eine Stufe höher hinaufreißt. Erst müsse er aber noch die Nicht-
gestorbenen befreien, d.h. warten bis sie tot sind. Er dachte an Töten durch Gedanken u. dgL Er
dürfe sich aber nicht verraten, daß er noch als Mensch fühle. Tatsächlich wußten aber die andern
den Sachverhalt und lachten darum über ihn, weil er noch im Raum hin- und herfahre. Dabei
beseelte ihn das Gefühl, daß die übersinnliche Welt, das goldene Zeitalter bevorstehe. Aus dem
Zusammenhang mit diesen Vorstellungen sind die Inhalte der Worte verständlich, die er von
Mitreisenden hörte: »Er weiß von gar nichts«; »paß auf, sag nicht so viel, sonst verrätst ihn«; »er
hat gar keine Ahnung, was er heute abend noch machen wird. Er wird auf der Bühne nackt
coitieren.« Dabei war er sich bewußt, daß, wenn diese Anforderung an ihn herantrete, er das
tun würde. Die Leute würden ihn nicht kümmern. Vielleicht würden sich alle ausziehen, und
dann sei das goldene Zeitalter da. Sexuelle Bedeutung hatten viele Redensarten. Um sich davor zu
schützen, ging er in ein Abteil, wo nur Frauen saßen. Aber gleich sagte eine Dame zur andern,
indem sie eine große Tasche aufsperrte: »Schau mal, welch eine himmlische Tasche.« Das war,
wie er am Gesichtsausdruck merkte und am hellen Auflachen der andern, symbolisch gemeint.
Die Leute wußten, daß er sinnlich wenig erregbar ist, und daß er nur selten Wollust verspürt
hat. In diesem Sinne wurde, ohne Bosheit neckend, gesagt: »Im Mai 1911 hat er einen Stoß ver-
spürt.« Einmal hieß es von einem draußen winkenden Mädchen: »Da winkt seine Braut.«
Über seine Sexualität redet der Kranke ohne Aufdringlichkeit und auch ohne Prüderie. Er
erzählt, daß er von jeher nur wenig und sehr selten sinnlich gewesen sei. Er sei beinahe frigid.
Im Widerspruch dazu ständen die »geilen Erregungen«, die er im weiteren Verlauf seiner Psy-
chose erlebte.
Immer beherrschte ihn jetzt die Idee vom goldenen Zeitalter. Es war im Kurort ein prachtvol-
les Wetter, wie ein Vorstadium zum goldenen Zeitalter. Kamen Wolken, so machten ihm auch
diese Freude. Es war der Eindruck dem zu vergleichen, den er vor H. v. Marees Bildern in Schleis-
heim hatte.886 Es ist heiß, dachte er, damit sich alle ausziehen können. Alle Häßlichkeit wird
schwinden.
| Mädchen pufften ihn in die Seite. Alles bezog sich auf ihn. Er reagierte nicht, denn er meinte,
er müsse ruhig sein, er dürfe nichts sagen, sonst brächte er die Erlösung nicht fertig. Es beherrschte
ihn geradezu ein Zwang, nicht fragen zu dürfen.
Er stellte im Zuge noch Erwägungen an darüber, was denn nun eigentlich Wirklichkeit sei. Er
war sich der vielen Widersprüche bewußt, hielt sie aber für möglich. »Ich habe beides erlebt, die
übersinnliche Welt, und die wirkliche, die ich für Schein hielt, den ich nur noch sehen mußte.«
Je näher er dem Kurort kam, desto weniger habe er in dieser Richtung nachgedacht.
Im Kurort stieg er aus dem Zug, ging aus dem Bahnhof, um sich einen Wagen zu nehmen. Wie
er zum Kutscher ging, hörte er rufen: »O wart, der Joseph kommt.« Auf seine Frage, ob er ihn
zum Hotel X. hinauffahren wollte, antwortete er: Nein, da fahre ich heut nicht hinauf. Der
Kranke hatte das Gefühl, es würden nun alle Kutscher so reagieren. Aber er fand einen, der ihn
fahren wollte. Nun dachte er: Ich will doch mal sehen, ob ich recht hab, ob die Leute wirklich

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