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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0487
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

Auf dem Wege zum Krankenhaus kamen noch mehrere Male die »Anfälle«. Er fühlte dabei
eine ungeheure Kraft und fühlte, wie schwach alle die Menschen seien, die ihn halten. Darum
schrie er: Jetzt geb ich Euch »io Männer-Kraft« und steigerte das bis in die Milliarden. Dabei
fühlte er, wie seine Kräfte beträchtlich weniger wurden, und er schließlich ganz matt war. Auf
diesem Wege verfluchte er laut den Herrgott, daß er ihm das philosophische System (den Skep-
tizismus) gegeben habe. »Ich will es mal zwingen, er soll mich vernichten, oder er soll mir die
Einsicht geben.«
Im Krankenhaus sah er einen Gobelin mit dem Gang nach Golgatha. Er stampfte auf und rief:
382 »Dich hab ich immer gesucht; ich bin halt der ewige Jude.«887 Im weiteren kam ihm | einen
Augenblick der Gedanke, er ginge in ein Kloster und sei der Bruder Medardus (E. Th. A. Hoff-
mann).888 Hauptsächlich beherrschte ihn aber jetzt die Idee, in einer höheren Welt zu sein. Er
fühlte sich gehoben, im Himmel und trotzdem verdammt, weiter als Mensch zu fühlen und die
andern als Menschen zu sehen. Dabei wußte er gleichzeitig ganz richtig, wo er war und wurde
jetzt in die Zelle für Tobsüchtige geführt. Er trat lustig herein mit den Worten: »Ach, das ist ja glän-
zend, da kann ich ja gar nichts kaput machen« (völlig leerer Raum). »Und der Opferaltar der
Menschheit ist auch da.« Dabei schlug er auf das in der Zelle stehende Klosett in seiner Wut auf
den Herrgott, daß er mit so viel Schmutz unser Dasein belastet habe, und dem Gefühl, es sei
recht, daß dafür auf diese Weise die Menschen unserm Herrgott opfern.
Die ihm begegnende Krankenschwester erkannte er jedesmal unmittelbar als »die Dame«. Sie
hatte auch diesmal körperliche Ähnlichkeit. Die Ähnlichkeit mit dem Bilde von Lionardo führte
ihn zum Namen Mona Lisa.SS9 Als Mona Lisa begleitete ihn die Dame in dem weiteren Verlauf
der Psychose.
Es wechselten jetzt vorübergehend in weniger zusammenhängender Weise mehrere Erlebnis-
kreise: es bemächtigte sich seiner das Bewußtsein, alles Anorganische sei beseelt (Reminiszenz
an Fechner).890 Beim Ausziehen hatte er seine Schuhe hingeworfen, das empfand er als Bruta-
lität, nahm die Schuhe, streichelte den Boden und stellte die Schuhe dann leise hin. Seine Hosen
legte er vorsichtig und sachte auf den »Opferaltar«.
Ganz allgemein betont der Kranke, daß alles, was er in der Psychose tat, motiviert war. »Und
zwar oft doppelt motiviert. [«] Es bestand ein sinnliches und ein transzendentales Motiv, z.B. bei
der Verunreinigung des Bettes: sinnliches Motiv: der körperliche Drang im Schlafzustand; tran-
szendentales Motiv: Aussonderung alles Unreinen aus der übersinnlichen Welt, die er in sich
hatte. »Ich hatte keine Hemmungsausfälle. Ich hätte es zurückhalten können.«
Er empfand ein starkes Bedürfnis zum Fluchen. Sein philosophisches System (skeptische Verzweif-
lung) sei dabei bestimmend gewesen. Er schrie: »Unser Herrgott, ich verfluche ihn, wir sind bloß
da, weil er gefickt hat.« Dabei warf er wütend Hemdenknopf und Krawatte an die Wand, empfand
einen Augenblick schmerzlich die Verletzung des anorganischen Seelenlebens, wurde sich dann
aber klar: »Halt, ich bin der Herrgott, ich habe ihn umgebracht. Ich darf mich nicht so benehmen.«
Beim Werfen des Hemdenknopfes meinte er: es muß nun doch donnern. Dabei hörte er die Musik
vom Kurpark her, dachte an »Siegfried« und »in Wirklichkeit schien sich ihm nun Romantisches zu
wiederholen«, er hörte Germanen ziehen und lebte eine Zeitlang in diesem Kreise. Er »fühlte, daß
überall in der Welt sich die romantischen Geschichten jetzt in neuer Form abspielten«.
Vorherrschend wurde aber wieder der Erlebniskreis des goldenen Zeitalters. Er dachte: hätte
Gott nicht gesündigt, da gebe es kein Elend. Dafür muß der neue Gott (er) sich selbst verdam-
men, er müsse immer in der Zelle bleiben, dann gebe es das goldene Zeitalter. Vorübergehend
überkam ihn das Bewußtsein, die Phantasiewelt selbst geschaffen zu haben, doch ganz selten.
 
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