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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0488
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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Er war von einem Riesenkraftgefühl durchdrungen, ballte in der Wut die Fäuste, hatte aber nicht
den Gedanken, irgend jemandem etwas zu tun.
Er glaubte, er käme nun in dieselbe Versuchung wie Gott. Draußen steht die Mona Lisa. Er kann
mit ihr Kinder zeugen und ruft: Die Mona Lisa soll hereinkommen. Öffnete sich die Tür, so schrie
er schnell, sie soll draußen bleiben. So schwankte er zwischen Anlocken und Wegstoßen.
In diesen Stunden entwickelte sich nun auch das Gefühl der Gegenwart der andern Persönlich-
keit und der Verdoppelung weiter. Bisher hatte er in Schwankungen erlebt; eine andere Persönlich-
keit gegenwärtig, die bis ins kleinste mitfühlt und sich mit bewegt, die dann er selbst in der Ver-
doppelung, er selbst als Weib ist. Nun in der Zelle wurde die Verdoppelung völlig deutlich. Jetzt
steckte die andere Persönlichkeit in ihm, er fühlte in sich den weiblichen Körper. Er fühlte die weib-
lichen Brüste, die runden Hüften, die weiblichen Genitalien. Dabei fühlte er gleichzeitig seine
eigene männliche Form und Genitalien. Doch fühlte er sich gewissermaßen als den Kern, als realer,
das Weibliche wie durchsichtig, wie gespensterhaft. Doch fühlte er das Leben des weiblichen Kör-
pers, das Atmen usw. sehr deutlich. Als Mann fühlte er sich lang, hatte ein riesiges Glied und fühlte
sich schön, wie den Adam Dürers.891 Er betastete sich in seiner Schönheit. So lang und wohl pro-
portioniert, dachte er, werden nun alle Menschen. Zwischen ihm als Mann und ihm selbst als
Weib kam es nun zum Coitus. Es war ein Liebesgefühl ohne alle sexuelle Erregung, »so ein freies,
gehobenes Gefühl,« ohne | Wollust waren doch die Sinnesempfmdungen des Coitus da. Als der
Coitus herum war, war das ganze Erlebnis der Verdoppelung fort. Es mag das vielleicht ¥2 Minute
gedauert haben. Ziemlich plötzlich veränderte sich der Zustand. Es ging eine schnelle Wandlungvor
sich in körperlicher Beziehung. Gleichwohl hatte er das Bewußtsein, daß er immer derselbe war,
geistig gleich blieb. Selbst später, als er Gott u.a. wurde, hatte er immer das Bewußtsein: ich bin der
Joseph Mendel, der nun Gott geworden ist. Einige Tage später in Heidelberg wiederholte sich noch
einmal das gleiche Erleben der körperlichen Verdoppelung. Sonst kam es nicht mehr vor.
Schon vor diesem Koituserleben hatte er vom Arzte eine Einspritzung bekommen. Dabei hat
er furchtbar laut geschrien. Die Schwester (Mona Lisa) half. Er war sich der Situation bewußt.
Die Schwester war geniert und er sagte guten Humors - wie er immer zwischendurch war -: »Ach,
schau mal da, wie die Mona Lisa geschämig ist.« Nach der Einspritzung kam ein duselnder
Zustand, in dem das Weibgefühl lebhaft hervortrat und zum beschriebenen Coitus führt. Dann
spürte er jenen Übergang in einen anderen Zustand, eine Veränderung. Es war nichts Weibli-
ches mehr da, sondern er ganz allein. Nun war er »furchtbar geil«, fühlte den Zwang: »jetzt soll
ich onanieren« und tat es; »es hat nicht viel dazu gehört,« meint er. Nach diesem Akt schlief er
ein und hatte eine ruhige Nacht.
Im allgemeinen bemerkt der Kranke, daß die Beschreibung nicht leicht sei. »Es ist so furcht-
bar unlogisch.« Doch betont er, daß die Zusammenhänge, die er beschrieb, sicher da waren, und
daß die dramatischen Weltvorgänge, die vor allem am nächsten Tag einsetzten, den Hauptraum
unter den zusammenhängenden Erlebnissen einnahmen. An diesem Tage bildeten die Vorstel-
lungen von doppelter Wirklichkeit, goldenem Zeitalter, eigenem Kampf, Beziehungen zum
Herrgott usw. das Vorspiel. Zwischendurch, so betont er, sei ihm übrigens der Arzt auch als
durchaus real und nicht bloß als Schein vorgekommen. Es bestanden fortdauernd Schwankun-
gen in seinem Zustand.
Am Montag, dem nächsten Tage, glaubte er beim Aufwachen, es müsse eine Ewigkeit her sein,
daß er in dieser Zelle sei. Aber er »fühlte sich jetzt normal«. Er wollte nach Hause, bat den Wär-
ter, ihm Kleider zu bringen und einen Nervenarzt zu holen. Er war durchaus klar und orientiert,
wartete lange auf die ärztliche Visite. Doch war er nicht völlig gesund: »Die Sachen lagen in der

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