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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0489
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

Luft; was ich erlebte, war nicht getilgt.« Es war als phantastisches Erleben abgeschwächt. Er
fühlte sich so wie zu Hause vor der Abreise nach dem Kurort. Er überlegte: vielleicht ist das alles
doch gestern gewesen, vielleicht ist es doch keine Ewigkeit her.
Im Laufe des Vormittags begannen die Phantasien von neuem. Zunächst ging es etwas durch-
einander, so daß der Kranke keine genaue Erinnerung der zeitlichen Reihenfolge hat. »Hier ist
eine Lücke, ich weiß den Anfang nicht recht.« Er lag z.B. auf dem Bett, hatte die Vorstellung: ich
habe den Herrgott besiegt, aber nicht den Gott-Vater, sondern Jesus. Er lag mit offenen Augen
da. Die Sonne schien durch die Milchglasscheiben in die Zelle. Er hatte das Gefühl: der Raum
ist verschwunden. Diese Zelle ist der einzige Raum, sie schwebt außerhalb der Welt. Die Wesen
außer ihm existieren raumlos. Für die Zeit hatte er keinen Maßstab mehr, lebte ohne Gefühl,
wie viel Zeit vorbeigehe. Ärzte, Krankenhaus, alles das war ihm verschwunden. Er lebte aus-
schließlich in den ungeheuren Ereignissen außerhalb der Zelle bei den überirdischen Wesen.
Diese Ereignisse waren ihm unmittelbar bewußt, außerdem hörte er Stimmen und sah manch-
mal irgend etwas, wie im weiteren Verlauf deutlich wird. Die Ereignisse entwickelten sich nun
in einem relativ konsequenten Zusammenhang.
Er war sich also bewußt: die ganze Menschheit besteht nur noch aus überirdischen Wesen;
diese leben im höchsten Maße der Seligkeit unter der Herrschaft des alten Gottes, der Juden-
tum, Christentum usw. vereinigte. Nur der Buddhismus und die Religion des Konfuzius war
noch draußen. Die frühere Welt ist tot, nur er ist noch menschlich. Nun erlebte er mit kolossa-
ler Bestimmtheit, wie alle Gott beschworen, auch ihn zu erlösen, aus der Zelle, aus Raum und
Zeit zu befreien, sterben zu lassen und zum überirdischen Wesen wie sie zu machen. Daraus ent-
sprang jetzt ein Kampf. Gott hätte diese Erlösung vollführt, wenn der Kranke mit demselben
Zustand, wie die andern ihn hatten, zufrieden gewesen wäre. Er verlangte aber: alle Wesen sol-
len Gott gleich sein, nur dann will ich aus der Zelle gehen. Alle Pflanzen, Tiere, die ganze anor-
ganische Welt sollen Gott gleich werden. Die anorganische Welt wurde ihm durch das Sand-
korn repräsentiert, das seelisch geradeso kompliziert ist wie andere Seelen. Auch das Sandkorn
soll Gott gleich in der überirdischen Welt leben. Er selbst kam sich oft als Sandkorn vor. Weiter
384 sollten auch abstrakte Begriffe in jene Welt gottgleich eingehen. Alle Tugenden und | auch alle
Laster: Geilheit (= Venus), Verrat, Heuchelei usw. Jedes Wesen soll Gott gleich das alles in sich
haben, so verlangte er; und willkürlich soll jedes Wesen das alles in sich hervorrufen können.
Eine kolossale Abwechslung wird so in den Himmel kommen. Es wird eine Lust sein, dort zu
leben. Man kann niemandem böse sein, denn er ist gleichzeitig alles. Der Kranke merkte: alle
andern helfen ihm und bestürmen den Herrgott, nachzugeben. Er stellte weitere Verlangen:
Auch Rheinwein und Tabak soll in den Himmel, auch ein bißchen Scheißdreck und Pisse.
»Wenn wir das auf der Erde haben, soll er es auch droben haben.« Die anorganische Materie, die
Elemente helfen auch. Die Sandkörner als Engel neckten den Herrgott. Dem machte das selber
Spaß. Vielleicht wäre er auf alles eingegangen, aber nun stellte der Kranke ein weiteres Verlan-
gen: Auch der Teufel und die Hölle sollen hinauf. Er dachte, Frank Wedekind ist vielleicht der
Teufel und infolgedessen: Der Teufel ist doch viel feiner als der Herrgott. Der Kranke merkte
gleich: diese Macht hat unser Herrgott nicht. Gott wird ganz ernst. Die Stimmen verstummen.
Da sah er, wie der Verschlag der Zelle in die Höhe klappte und ein Gespenst in das Zimmer
huschte. Es war hemdartig durchscheinend, ohne deutliche Form. Es huschte unters Bett. Das
war der Herrgott. Ihm war unheimlich: was will er? Eine Stimme ruft: »Du mußt jetzt.« Er fühlte
eine Armbewegung. Das ist der Tod. Wie ein elektrischer Schlag ging es durch den ganzen Kör-
per. Doch der Kranke war stärker. Gott hatte ihn ohne Erfüllung seines Verlangens in den Hirn-
 
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