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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0491
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

Schläge, dann Einzug des Gottes. Wie er dann wieder »aufgemacht« schrie, klopfte es nicht
mehr. Das war ein Zeichen, daß nun alle Götter der Erde in ihm sind. Er fühlte sich erfüllt von
ihnen. Nur noch ein klein wenig Raum - die Zelle - hat er um sich, sonst ist alles Weltgesche-
hen übersinnlich. Jetzt wollte er - gewissermaßen zur Probe seiner Kraft - die mächtigste Hand-
lung ausführen. Er befahl: »Der Raum verschwinde.« Es geschah nicht. Er hatte trotz der ungeheu-
ren Ereignisse noch nicht genug Kraft, obgleich er in dem Bewußtsein großer Anstrengung
immer zum Kampfbereit war, im Gefühle seiner Gewalt die Fäuste ballte, die Muskeln straffte.
Jetzt war eine Pause. Nach kurzer Zeit fühlte er, ohne zu sehen: jetzt kommt eine Göttin. Er
fühlte, daß sie draußen ist und er fühlte: es ist die Mona Lisa. Es war eine neue Versuchung: wenn
er jetzt Menschen mit ihr zeugte, müßte das ein glückliches Geschlecht sein. Aber er hatte das
Bewußtsein: ich darf es nicht. Es gibt noch mehr Götter außer der Erde; ich will alle zu einem
machen. Hier überkam ihn der erschreckende Gedanke: vielleicht gibt es hier so etwas ähnli-
ches, wie den unendlichen Regressus beim Skeptizismus. Doch er entschloß sich: ich will es ver-
suchen, alle Götter zu einem zu machen. Er merkte gleich, daß die Mona Lisa ihn versteht, sie
zog zu den übrigen zu ihm ein. Daß es dieselbe Mona Lisa war, die schon in ihm saß, darauf kam
es nicht an. Das Draußen und Drinnen war manchmal für ihn ganz identisch.
Jetzt waren alle Götter, die jemals auf der Erde verehrt wurden, in ihm. Die Mona Lisa weinte,
weil die andern Göttinnen die mit ihr im Herzen saßen, mächtiger und schöner sind. Das tat
ihm weh und er tröstete sie. Alle Götter und Genien hatten in ihm einen bestimmten Platz. Aber
die anfängliche Lokalisation (Krieger im Arm, Künstler im Gesicht usw.) war verloren gegangen.
Die Welt der alten Götter saß zusammengedrängt auf einem Raum und stückweise, wie durch
Schotten abgetrennt, folgten durch den ganzen Körper andere Gruppen. Sie hatten keine Ein-
heit, verstanden sich nicht. Es bestand jetzt die Aufgabe, Einheit und Ordnung zu schaffen.
Inzwischen kam wieder der Wärter (= Teufel) und brachte, wie sich der Kranke gut erinnerte,
Kaffee mit 2 Hörnchen. Es wiederholte sich derselbe Vorgang wie früher, die ganze Welt in ihm
fraß gierig.
Ferner kam der Besuch des Medizinalrats. Wegen der zwinkernden Augenbewegungen dachte
der Kranke, der sei die Inkorporation eines Vogels, vielleicht sei er aber auch der Herrgott. Jeden-
falls verstellt sich das Wesen in der Scheinwelt. Darum gab er zunächst sinnlose Antworten,
wußte das selbst und dachte: der andere verstellt sich ja auch. So sagte er z.B. ex vacuo:895 »Auf
dem Boden laufen Wanzen, im Bett sind keine«, und lachte dazu. Dann wollte er sich aber in
der menschlichen Scheinwelt menschlich benehmen und antwortete auf die Frage nach seiner
Krankheit: »Ich leide an einem religiösen Wahnsystem,« denn er wußte, daß es menschlich so
aussehen mußte. Er betont jetzt, daß er damals durchaus keine Einsicht hatte, geschweige denn
vorübergehend gesund war. Auf die Frage nach einem juristischen Paragraphen antwortete er
geordnet und ließ sich darüber aus, daß die Verletzung der geistigen Gesundheit nicht bestraft
werde. Dabei kam ihm der Gedanke: an meiner Verrücktheit ist vielleicht das Staatsministerium
schuld. Denn wenn der Medizinalrat wirklich Mensch ist, das war ihm klar, dann sei er tatsäch-
lich verrückt. Dazu bemerkt der Kranke im allgemeinen: »Ich habe immer eine Unmasse gleichzei-
tig gedacht, was nicht in derselben Sphäre lag.«
Nun war die Aufgabe: Ordnung schaffen in der Götter- und Genienwelt. Im Gedanken an das
Symbol der Einwicklung lag er passiv da. Die Mona Lisa wird helfen. Er merkte nun, daß alle
Götter wieder auszogen. Es fanden draußen furchtbare Kämpfe statt, das fühlte er. Die Götter
konnten sich nicht einigen. Schließlich gelang es ihrer Beratung, Einigkeit zu erzielen. Nun fand
von neuem der Einzug statt, genau wie früher: einer nach dem andern. Durch Bewegungen
 
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