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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0493
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

sind das meine Freunde? oder nicht? »Zwanzig Vorstellungen hatte ich vom selben Vorgang, wie
man ihn interpretieren konnte.« Der Zweifel war immer gelegentlich vorhanden, nahm aber
jetzt im weiteren Verlauf sehr zu. Nur eins wußte er immer gewiß: Die Mona Lisa verläßt mich
nicht. Als der Arzt fragte, ob er Dante gelesen habe, kam ihm die Vorstellung: ist die Mona Lisa
meine Beatrice?897 -
Am Montag Abend kam ein Arzt. Er wurde aus der Zelle in ein anderes Zimmer geführt. Aus
dem Bett, in das er kam, ging ein Mann mit verbundenem Kopf fort. Außer ihm waren noch drei
im Zimmer. Als er dalag, kam ihm der Gedanke: Ich habe zwar die Hölle erlöst, die Götter und
alles, nur das Fegefeuer habe ich vergessen. Das wird noch kommen. Die drei wollten ihm gewiß
387 helfen. Er fragte sie, ob sie ihn wecken wollten, wenn der Kampf an ihn | herantrete. Dabei
dachte er, die andern verständen ihn sofort. Sie antworteten: Ja, ja, wir wecken dich. Gleichzei-
tig zwitscherten die Vögel. Er erkannte die Bedeutung: auch sie wollen ihn wecken. Nun war er
ruhig und schlief kurze Zeit. Im Beginn der Nacht wachte er auf und nun begannen ähnliche
Vorgänge wie früher. Er kommandiert: aufgemacht, hörte Beilschläge, das ganze Fegefeuer zog
ein. Es dauerte lange. Schließlich ließ er abstrakte Begriffe kommen und kommandierte: »alles
was existiert, soll kommen«; »das Nichts«; »der Gegensatz zu allem«; »der Gegensatz zum
Gegensatz« und so fort ad infmitum. Schließlich war alles erlöst, und er ruhig. Er scherzte die
ganze Nacht mit den dreien, prophezeite: morgen gibts feinen Wein, Burgunder, Bordeaux ...
Die lachten. Er hatte dabei immer seine übersinnlichen Ideen: Rauben und Morden ist so berech-
tigt als Liebe; es gibt keine Wertunterschiede mehr; solches und ähnliches hing nach seiner Mei-
nung mit seiner Philosophie: der Skepsis, zusammen.
Am Dienstag morgen wurde einer entlassen. Zwei blieben noch da. Beim Kaffee fühlte er sich
kolossal froh. Er dachte: »Es ist mir doch etwas Großes gelungen. Aber warum bin ich denn selbst
noch da eingesperrt. Wenn ich auch bloß ein Sandkorn bin. Ich habe doch jeden zum Gott
gemacht. Vielleicht befreit mich die Mona Lisa.« Er verkroch sich unter die Bettdecke, fühlte
einen Luftzug, wie wenn er gestreichelt würde. Er deckte sich wieder auf und dachte jetzt: »Ich
bin doch ein kolossales Rindvieh. Ich hab gedacht, ich hab die Welt erlöst. Ich bin doch der
Bruder Medardus. Es sind 3000 Jahre vergangen. Ich bin in der Wirklichkeit. Aber alle Menschen,
die ich kannte, sind tot.« Dabei hatte er nun das Gefühl großer Verlassenheit und Traurigkeit. (Ver-
schmelzung des »Medardus« mit einer Geschichte vom Klosterbruder, wie er selbst angibt.) Es
war ihm klar: »Das war Narretei, was ich bis jetzt trieb.« Er betete inbrünstig zu einem über der
Tür hängenden gekreuzigten Christus. Er wußte nicht, was mit ihm los war. Es war ihm furcht-
bar unheimlich. Er faßte den Entschluß, nun in alle Ewigkeit zu beten. Die zwei andern im Zim-
mer weinten. Doch machte der eine einmal einen Scherz. Der Kranke betete: Dein Wille
geschehe. Der andere: Nein, sein Wille geschehe. Darauf der Kranke aus Versehen: Mein Wille
geschehe. Als er es merkte: Du Spitzbub halt den Mund.
Seit zwei Tagen hatte er sich nicht gewaschen. In seinem Gesicht saßen oft Fliegen. Er meinte:
aus Zärtlichkeit. Sie störten ihn aber am Schlaf. Er wollte gern schlafen; wenn ich das tue, werde
ich vielleicht doch erlöst. Einer der andern legte ihm Papier über den Kopf zum Schutz gegen
die Fliegen. Er schlief aber nicht recht, fühlte ein Streicheln am Körper, fühlte sich weiblich,
hörte eine Stimme, er solle zum Weib werden. Der Zusammenhang mit dem Vorhergehenden
war nun fast völlig unterbrochen. Er dachte: vielleicht werde ich Papst. Als er auf einer Tafel
»Speyer« las, dachte er gleich: ich muß zum Bischof nach Speyer.
Eben fährt draußen ein Zeppelin-Luftschiffvorbei. Er steht nackt am Fenster mit Weibsgefühl.
Das Luftschiff kam ganz nahe. Er meinte, es führe in den Himmel. Er fühlte, wie wenn ihm Flügel
 
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