Kausale und »verständliche« Zusammenhänge
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wachsen würden. Sie konnten aber nicht wachsen. Es klangen Gedanken von außerirdischen
Welten von früher an. Alles soll hinauf, was nicht auf der Erde bleiben will. Vielleicht geht er
selbst mit. Doch der Zeppelin flog fort ohne ihn. Das tat ihm weh. Er blieb zurück in dem
Bewußtsein: jetzt muß ich in alle Ewigkeit in diesem Zustand in dieser Zelle bleiben.
Am Dienstag nachmittag kam sein Onkel. Er unterhielt sich normal, machte aber dazwischen
eigentümliche Bemerkungen. Dessen war er sich damals selbst bewußt. Dann kam seine Schwe-
ster herein. Er fühlte sich ihr gegenüber fremd. Als beide fort waren, hänselten ihn die beiden
andern Kranken im selben Zimmer: Haben Sie aber ein schönes Schwesterchen; und die lassen
Sie da allein liegen. Das machte den Kranken sehr wütend. Jetzt wurden ihm Kleider gebracht.
Er wusch sich, zog sich an, schwankte dabei etwas. Er hörte, wie gesagt wurde, es werde eine rus-
sische Kapelle hier gebaut. Er: ist der Dostojewski hier? Die andern: Ja. Er: dann bleib ich hier.
Als Onkel und Schwester ihn abholten, um ihn nach Heidelberg zu bringen, wollte er nicht mit:
ohne die zwei gehe ich nicht fort (das war auch in übersinnlichen Vorstellungen begründet).
Als man sagte, sie wollten nur einen Spaziergang machen, ging er mit. Er hatte aber ein großes
Mißtrauen gegen Onkel und Schwester. Vom Onkel dachte er: das ist mein Vetter in Gestalt des
Onkels. Von der Schwester: vielleicht ist es meine Schwester, vielleicht die Dame; meine wirk-
liche Schwester ist die Dame. »Es wechselte jetzt das ganze Wahnsystem.« Die Dame und er selbst
sind Kinder des Königs Otto von Bayern. Durch Gedankenübertragung sind sie gezeugt worden.
»Und es gibt doch Gedankenzeugung.« Er glaubte, sie müßten den als geisteskrank eingesperr-
ten König befreien. Der Kranke meint, die Erlebnisinhalte seien um einen Grad wirklicher, weni-
ger phantastisch geworden. Dann tauchte | der Gedanke auf, Frank Wedekind sei der König Otto,
der in dieser Verkleidung sich unter Menschen bewege. Damit in Zusammenhang trat der schon
vor der akuten Psychose gebildete Wahn, das Ministerium arbeite gegen ihn. Nun wurde ihm
das begreiflich. Als Sohn des Königs Otto wollten sie ihn ausschalten.
Auf der Auto fahrt nach Heidelberg sah er am Wege den Mann mit dem verbundenen Kopf, der
sein Bett verließ, als er ins andere Zimmer kam. Der machte eine tiefe Verbeugung. Das bestärkte
ihn in der Idee, Kronprinz zu sein. Er sprang öfters im Wagen auf. Als sie sich Heidelberg näher-
ten, dachte er, es sei die neue Hauptstadt geworden. Eben vor Heidelberg sah er am Wege die
Dame. Er sprang rasend auf. Sie sah sehr traurig aus. Er wußte, daß er zum Arzt sollte. Von der
Klinik dachte er: vielleicht ist sie das Schloß. Sie erschien ihm als beides, sowohl als Schloß, wie
als Irrenklinik. Er hat beständig geschwankt und gezweifelt und schließlich sogar andere Kranke
gefragt, wo er denn eigentlich sei. Der Wärter, der mit im Auto fuhr, erschien ihm als Freund:
der drückte ihm so liebevoll die Hand. Im Bad wurden ihm die Nägel geschnitten. Das nahm er
lustig. Als er fertig war: »Passen Sie auf, ich kann doch noch mit ihnen kratzen.«
In der ersten Nacht in Heidelberg lebte er in Neuschwanstein.898 An der Wand sah er König Otto,
eine Krone in den Kopf gepreßt. Davor stand ein Jud. Für den weiteren Verlauf ist dem Kranken die
zeitliche Reihenfolge verloren gegangen. Es gab nicht mehr ein so relativ zusammenhängendes Erleben wie
im Kurort. Außer den Beziehungen zu König Otto, die immer wiederkehrten, traten vorübergehend
alle möglichen andern Erlebniskomplexe auf; er fühlte, daß er seziert wurde. Das tat nicht weh,
aber er fühlte den Rücken aufgeschnitten, ein Bein abgeschnitten, aber (»wuppti«) sprang alles
immer wieder in die alte Stellung zurück, er war unverwüstlich. Diese Sektion erlebte er so, daß er
sich gleichzeitig im Bett und drüben im Sektionssaal fühlte. »Die andern meinen, sie hätten mich
draußen und sezierten mich und gleichzeitig liege ich hier.« Dann wieder glaubte er zu erleben,
wie er im Grabe von Würmern zerfressen wurde. Dann fraßen wieder Ratten ihn aus. Er fühlte über-
all das Nagen und Fressen, aber sie konnten ihm nichts anhaben, da er grade so schnell wieder-
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wachsen würden. Sie konnten aber nicht wachsen. Es klangen Gedanken von außerirdischen
Welten von früher an. Alles soll hinauf, was nicht auf der Erde bleiben will. Vielleicht geht er
selbst mit. Doch der Zeppelin flog fort ohne ihn. Das tat ihm weh. Er blieb zurück in dem
Bewußtsein: jetzt muß ich in alle Ewigkeit in diesem Zustand in dieser Zelle bleiben.
Am Dienstag nachmittag kam sein Onkel. Er unterhielt sich normal, machte aber dazwischen
eigentümliche Bemerkungen. Dessen war er sich damals selbst bewußt. Dann kam seine Schwe-
ster herein. Er fühlte sich ihr gegenüber fremd. Als beide fort waren, hänselten ihn die beiden
andern Kranken im selben Zimmer: Haben Sie aber ein schönes Schwesterchen; und die lassen
Sie da allein liegen. Das machte den Kranken sehr wütend. Jetzt wurden ihm Kleider gebracht.
Er wusch sich, zog sich an, schwankte dabei etwas. Er hörte, wie gesagt wurde, es werde eine rus-
sische Kapelle hier gebaut. Er: ist der Dostojewski hier? Die andern: Ja. Er: dann bleib ich hier.
Als Onkel und Schwester ihn abholten, um ihn nach Heidelberg zu bringen, wollte er nicht mit:
ohne die zwei gehe ich nicht fort (das war auch in übersinnlichen Vorstellungen begründet).
Als man sagte, sie wollten nur einen Spaziergang machen, ging er mit. Er hatte aber ein großes
Mißtrauen gegen Onkel und Schwester. Vom Onkel dachte er: das ist mein Vetter in Gestalt des
Onkels. Von der Schwester: vielleicht ist es meine Schwester, vielleicht die Dame; meine wirk-
liche Schwester ist die Dame. »Es wechselte jetzt das ganze Wahnsystem.« Die Dame und er selbst
sind Kinder des Königs Otto von Bayern. Durch Gedankenübertragung sind sie gezeugt worden.
»Und es gibt doch Gedankenzeugung.« Er glaubte, sie müßten den als geisteskrank eingesperr-
ten König befreien. Der Kranke meint, die Erlebnisinhalte seien um einen Grad wirklicher, weni-
ger phantastisch geworden. Dann tauchte | der Gedanke auf, Frank Wedekind sei der König Otto,
der in dieser Verkleidung sich unter Menschen bewege. Damit in Zusammenhang trat der schon
vor der akuten Psychose gebildete Wahn, das Ministerium arbeite gegen ihn. Nun wurde ihm
das begreiflich. Als Sohn des Königs Otto wollten sie ihn ausschalten.
Auf der Auto fahrt nach Heidelberg sah er am Wege den Mann mit dem verbundenen Kopf, der
sein Bett verließ, als er ins andere Zimmer kam. Der machte eine tiefe Verbeugung. Das bestärkte
ihn in der Idee, Kronprinz zu sein. Er sprang öfters im Wagen auf. Als sie sich Heidelberg näher-
ten, dachte er, es sei die neue Hauptstadt geworden. Eben vor Heidelberg sah er am Wege die
Dame. Er sprang rasend auf. Sie sah sehr traurig aus. Er wußte, daß er zum Arzt sollte. Von der
Klinik dachte er: vielleicht ist sie das Schloß. Sie erschien ihm als beides, sowohl als Schloß, wie
als Irrenklinik. Er hat beständig geschwankt und gezweifelt und schließlich sogar andere Kranke
gefragt, wo er denn eigentlich sei. Der Wärter, der mit im Auto fuhr, erschien ihm als Freund:
der drückte ihm so liebevoll die Hand. Im Bad wurden ihm die Nägel geschnitten. Das nahm er
lustig. Als er fertig war: »Passen Sie auf, ich kann doch noch mit ihnen kratzen.«
In der ersten Nacht in Heidelberg lebte er in Neuschwanstein.898 An der Wand sah er König Otto,
eine Krone in den Kopf gepreßt. Davor stand ein Jud. Für den weiteren Verlauf ist dem Kranken die
zeitliche Reihenfolge verloren gegangen. Es gab nicht mehr ein so relativ zusammenhängendes Erleben wie
im Kurort. Außer den Beziehungen zu König Otto, die immer wiederkehrten, traten vorübergehend
alle möglichen andern Erlebniskomplexe auf; er fühlte, daß er seziert wurde. Das tat nicht weh,
aber er fühlte den Rücken aufgeschnitten, ein Bein abgeschnitten, aber (»wuppti«) sprang alles
immer wieder in die alte Stellung zurück, er war unverwüstlich. Diese Sektion erlebte er so, daß er
sich gleichzeitig im Bett und drüben im Sektionssaal fühlte. »Die andern meinen, sie hätten mich
draußen und sezierten mich und gleichzeitig liege ich hier.« Dann wieder glaubte er zu erleben,
wie er im Grabe von Würmern zerfressen wurde. Dann fraßen wieder Ratten ihn aus. Er fühlte über-
all das Nagen und Fressen, aber sie konnten ihm nichts anhaben, da er grade so schnell wieder-
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