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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0495
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

wuchs. Dann fühlte er sich einmal als armer Lazarus usw. Er selbst war abwechselnd Herrgott und
Teufel. Das schien ihm gleichgültig. Alle Gegensätze waren ja gleich. Zusammenfassend meint der
Kranke, daß er alles, was er je gelesen oder in der Phantasie ausgemalt hat, jetzt in der Psychose erlebt habe.
Als dies relativ wenig zusammenhängende Erleben in Heidelberg etwa 2 bis 3 Tage gedauert
hatte, trat in der Nacht von seiner Seite eine neue Stellungnahme zu allem auf: Zuletzt ergriffen ihn
die Gedanken, es sei unmöglich, den Widerspruch aufzulösen, daß Gott und der Teufel in ihm
identisch seien. »Und die Zweiheit ist doch die Einheit« - »Nein es geht nicht.« Er bat Gott, ihm
zu helfen und die Dreieinigkeit: »Ich, Gott, Teufel« zustande zu bringen. Sein Ich war hier wie
früher nicht das individuelle Ich, sondern das Ich = alles was in mir ist, die ganze Welt. Aber
alles was in ihm war, war wieder in allem andern drin. Solche Gedanken und das immer mehr
chaotisch gewordene Erleben brachten ihn »zur Raserei«. Er sagte sich ganz willkürlich: »ich
kann die Phantasiewelt nicht mehr ertragen; ich will in die Wirklichkeit zurück«. Dabei war ihm
bewußt, die Phantasien sind wertvoller als die Wirklichkeit, sie sind wirklicher als die Wirklich-
keit; er war sich der Schönheit der Phantasie bewußt. Aber: »ich halts nicht mehr aus«. Er betont,
daß er durchaus noch keine Einsicht besaß - das dauerte noch mehrere Tage, in denen Stimmen
und andere Erlebnisse noch häufig vorkamen - daß er zwar immer »Wirklichkeit« und »Phan-
tasiewelt« scharf trennen konnte, aber nicht wußte, welche er für die eigentlich wirkliche hal-
ten sollte. Während er anfangs ganz zur Phantasiewelt neigte, nahm der Zweifel allmählich zu.
Es klopfte an der Wand. Er hörte Frank Wedekinds Stimme. Er fühlte es wie eine Suggestion,424
daß er nun zur Wirklichkeit zurück solle, da er sich unfähig erwiesen hatte, die Welt zu erlösen.
Zufällig legte er die Hände unter den Hinterkopf. Er fühlte, wie durch den Druck das im ganzen
Körper empfundene Klopfen des Pulses besänftigt wurde, daß Kopf und Herz, die vorher durch-
einander gingen, sich dadurch wieder trennten. Dieses unwillkürlich gewonnene Mittel, die
Hände unter den Kopf zu legen, wandte er im weiteren Verlauf nun absichtlich an. Ein anderes
Mittel kam ihm wie suggeriert vor: er sagte unendlich oft vor sich hin: ich bin so dumm, es gebt mir
ein Mühlrad im Kopf herum. Dadurch wurden seine Gedanken unterbrochen, und er abgelenktvon
389 dem Phantasieerleben. Ganze Nächte habe er auf diese Weise | gesummt. Unwillkürlich trat dies
alles ein, aber er fühlte dann seinen Willen und die Anstrengung, die es ihm kostete, langsam zur
Wirklichkeit zurückkehren. Er nahm sich vor, wieder wie ein Normaler zu handeln und alles so
wie ein Normaler anzusehen. Die letzte aktive Anstrengung war es gewesen, als er im Kurort sich
eine Zigarre bestellte. Bis zu dieser Nacht hatte er sich ganz den Erlebnissen hingegeben, oft gelei-
tet von dem Symbol des eingewickelten Kindes. Nun begann die aktive Anstrengung von neuem,
nicht aus irgendeiner Einsicht heraus, sondern rein aus dem Willen, weil »er es nicht mehr aus-
halten konnte«. Bevor wir den weiteren Verlauf und seine schließliche Einsicht beschreiben,
suchen wir noch einiges von den Arten der vergangenen seelischen Erlebnisse zu schildern.
Bei den dramatischen Welterlebnissen war alles als Wirklichkeit einfach »evident«. »Ich erlebte
das, was außen vorging unmittelbar und dem entsprach immer ein Zucken im Körper«. »In mir
und außer mir, das war identisch.« »Diese Gefühlsevidenz ist die stärkste, die es gibt. Wenn ich
selbst das Gegenteil gesehen hätte, das wäre vollständig gleich gewesen. Immer war es; es ist so,
es ist gar kein Zweifel - d.h. im Augenblick des Erlebens.« Dabei begleiteten ihn vage Vorstellun-
gen von den Geschehnissen, die manchmal etwas intensiver, manchmal auch fast rein gedank-
lich waren. Immer war trotzdem der Inhalt dieser Vorstellungen unbedingt sicher. »Wie Kierke-
gaard fordert, selbst das Paradoxe müsse man glauben, so erlebte ich es.«
Scheinwelt und übersinnliche Welt waren für ihn völlig klar getrennt, doch nur für das Gefühl
abzugrenzen. In der Eisenbahn nach dem Badeort saßen links 4 Menschen, die lebten, rechts
 
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