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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0496
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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vier, die nur Schein und tot waren. Das fühlte er unmittelbar. Dazu hörte er eine Stimme: er merkt
gar nicht, daß er »einseitig« ist.
Der Kranke hatte eine ganze Menge sinnlicher Anhaltspunkte, durch die hindurch er von jenem
Weltgeschehen wußte. Er betont aber, daß davon nicht die Sicherheit der Evidenz gekommen
sei, diese sei vielmehr unmittelbar gewesen. Er wußte alles ganz bestimmt. Von den sinnlichen
Anhaltspunkten spielen eine große Rolle die Körperempfindungen. »Ich bezog immer dasselbe
bestimmte Körpergefühl auf denselben übersinnlichen Vorgang« (bei den Ein- und Auszügen).
Z.B. war das Kitzeln durch seine Mutter solch ein ganz bestimmtes Kitzeln. Bei diesen Körper-
empfindungen dachte er: ich muß mich menschlich sehen, aber er fühlte, daß er in Wirklich-
keit etwas ganz anderes war. Er glaubte alles zu umfassen, was sich außerhalb des kleinen Rau-
mes abspielte. Doch bemerkt er, wie widerspruchsvoll das räumliche und das eigentlich raumlose
übersinnliche Geschehen durcheinanderging. Nur wenn der Einzug war, fühlte er sich als ein
die ganze Welt Umfassender, beim Auszug fühlte er sich auch räumlich allein und vereinsamt.
Neben dem unmittelbaren Erleben der evidenten übersinnlichen Wirklichkeit war er aber
durchaus fähig zu Gedanken, zu Erwägungen von Möglichkeiten: vielleicht existieren noch wei-
tere Götter, es ist möglich; ich muß abwarten. Er war ferner in Zwischenaugenblicken, wie aus
den früheren Schilderungen hervorgeht, zu Zweifeln fähig.
Weitere sinnliche Anhaltspunkte waren das Klopfen mit Beilen, das er hörte, das Aufhören des
Klopfens, die Schritte der draußen Vorbeigehenden, dann vor allem die sehr zahlreichen Stim-
men. Diese kamen genau so wie wirklich Gesprochenes von außen und waren mannigfaltiger
Art. Die Schwaben riefen - er meinte, grade vor dem Fenster - »Bravo Josef«, »wir sind wieder
da«; »der Wein ist a dabei«; »a bissl Scheißdreck ist a dabei«. Manche Stimmen waren weiter weg,
wie wenn aus größerer Entfernung sehr laut gerufen wird, manchmal wie wenn von weit her
ein Echo hergetragen wurde. Die Sandkörner sprachen als Engelchen wie Kinderstimmen. Sie
waren so nah, wie wenn sie vom Gang her sprächen usw. In sich selbst hörte er Laute, wie wenn
Bläschen zerspringen, Magenknurren. In diese körperlichen Vorgänge verlegte er auch die Stim-
men, so daß er dachte: das klingt wie ein Bauchredner. Ferner hörte er Stimmen aus allen Geräu-
schen der Umgebung, aus rutschenden Stühlen, aus Eisenbahnpfiff, Wagengeräusch usw. Die
Stimmen der Vögel verstand er gewöhnlich, ohne Worte von ihnen zu hören, in ihrer Bedeu-
tung. Dann hörte er auch aus dem Gezwitscher Worte heraus im Vogelton, nicht wie ein Mensch
spricht: »Du Narr«; »er helft dir nicht« (als er zu Gott betete). Im Wagengeräusch hörte er Bau-
ern in Holzschuhen gehen, Kobolde arbeiten, Hephästos8" schmieden (dabei hielt er sich einen
Augenblick selbst für Hephästos, da ein Bein gelähmt war). Das Schmauchen der Lokomotive
hieß: hoch, hoch, hoch in die Lüfte fahren, das Pfeifen: Gift, Gift.
Gesehen hat er im ganzen wenig: die Illusionen aus den Ritzen der Decke, den leuchtenden Son-
nengott, den König Otto an der Wand, den Teufel hinter der Klappe, den Herrgott | als durchsich-
tiges Tuch durch die Lüfte kommend. Die Personen, die er sah, sah er alle richtig. Wenn er sie als
andere Persönlichkeiten verkannte, so »lag das nur im System«, nicht in der Wahrnehmung. Bestä-
tigungen der Verkennungen - »ich hätte sie aber nicht gebraucht« - nahm er aus Eigentümlich-
keiten ihres Verhaltens, aus einer entfernten Ähnlichkeit. Das wurde ihm aber beim Erleben kaum
bewußt. Immer zwischendurch hatte er wieder das Gefühl: vielleicht ist sie es doch nicht usw.
In Heidelberg hat er auch Geruchs- und Geschmackstäuschungen gehabt. Das Essen schmeckte
absonderlich, die Luft roch nach Laboratoriumsgerüchen. Er dachte an Vergiftung, meinte, das
ginge vielleicht vom Staatsministerium aus.

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