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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0497
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

Auf keinem Sinnesgebiete hat der Kranke irgendwelche Pseudohalluzinationen gehabt. Er hatte
nur Illusionen und echte Halluzinationen. Von den Sinnestäuschungen werden noch einige aufge-
zählt: Die Stimmen der Engelchen (Sandkörner) baten ganz leise für ihn beim lieben Gott, aber
ganz deutlich für ihn hörbar. - Er hörte keine befehlenden Stimmen. »Die Vorstellungen, die Erleb-
nisse zwangen mich.« - Alle Götter waren stumm. Nur einmal sagte der Herrgott »Du mußt« (siehe
oben), als er in die Zelle geflogen war. Auf Fragen an die Götter und Genien bekam er keine Ant-
wort. Er erkannte die Genien ausschließlich am Gefühl und an den Empfindungen des Gesichts-
ausdrucks. Sogar seine Haare legten sich dabei in eine andere Frisur. - Als er summte: es geht mir
ein Mühlrad im Kopf herum, fühlte er tatsächlich ein Rad im Kopfe, fühlte es wie Kaffeemühlen
an der Brust. Das Empfinden, daß sein Körper sich verändert, hat er oft gehabt. Der Schlag war wie
ein elektrischer Schlag. Es war manchmal, wie wenn ein Strom durch den Körper ginge.
Während der Psychose - so betont der Kranke - waren alle Handlungen motiviert. Sinnlose Bewe-
gungen, »katatonische Bewegungen« seien gar nicht vorgekommen. Er gab die Hand dem Arzt
nicht, weil er meinte, daß der Arzt dann verdammt würde. Er lief auf den Gang, weil er König
Otto befreien wollte. Er ließ sich zurückführen, weil er dann sah, daß es noch nicht Zeit sei. Er
klopfte im Hotel an die eigene Zimmertür, weil er den eventuellen Dieb nicht stören wollte; in
dem Bewußtsein: es ist alles gleichgültig und berechtigt, ich muß alles geschehen lassen usw.
Desorientiert sei er nie gewesen, nur mal zerstreut, wenn er grade ganz bei den Erlebnissen war.
So habe er ins Wasserglas uriniert: er meinte, der Topf sei fort, da der Wärter ihn abgeholt hatte.
Er suchte nach einem Eimer, sah das Glas, dachte, die Kranken in dem Kurort hatten auch Glä-
ser, und benutzte es. Dies war »das irdische Motiv«. Er konnte aber keinen Augenblick mehr war-
ten, da »der Rest des Schlechten hinaus mußte«. Das war das »transzendentale Motiv«. Diese
Doppelheit der Motive betonte er weiter beim Rülpsen und bei den Blähungen, beim nächtlichen
Verunreinigen des Bettes: das sei im Schlaf gekommen mit dem Bewußtsein: das ist gut, daß nun
alles Unreine (übersinnlich) hinaus ist. Dann war ihm der Schmutz sofort sehr unangenehm.
Er hat nicht geschmiert.
Nie sei er eigentlich ratlos gewesen. Er konnte sich immer zurechtfinden. Wenn der Arzt kam,
dachte er immer: was will er wohl, wie beurteilt er mich wohl? Dann sagte er etwas, bloß um zu
sehen, wie der Arzt reagiere, und um daraus Schlüsse zu ziehen; er sagte z.B. unmotiviert:
»Warum erschrecken Sie denn so?« »Wiewohl ich verrückt war, war ich doch bei Verstand« meint
jetzt der Kranke. Was seine Stimmungin der Psychose angeht, so war diese natürlich wechselnd
und sehr mannigfaltig. »Eigentlich fühlte ich mich immer unbehaglich.« Er fühlte sich allein im
Raum, und der Gedanke, in alle Ewigkeit da zu liegen (Anklingen von Tannhäuseridee),900 war
fürchterlich. Er mußte denken: bald kommt niemand mehr. Dann hatte er ein lustiges Gefühl,
wenn z.B. die Schwaben kamen. Oft war er humorvoll, machte Scherze und dachte: ich will
meine schwäbische Natur nicht verleugnen. Wenn die Götter einzogen, fragte er: sind noch viel
da? Mit seinem Scherzen wollte er die Ergriffenheit der stummen Götter nicht aufkommen las-
sen. Doch fühlte er sich selbst dabei gleichzeitig ergriffen, hatte Verantwortungsgefühl für seine
Aufgabe. Doch war er auch wieder gleichgültig: Wenns nicht gelingt, auch gut. Er hatte zwar den
Entschluß, alles einzusetzen, aber der Ausgang war ihm egal. Bei allem fühlte er sich nie »groß«.
»Ich bin bestimmt, ich muß es tun« war die Stimmung. Er dachte wenig nach, sondern erlebte
unmittelbar passiv, aber in dem Bewußtsein, zum Kampfe gerüstet zu sein, wenn die Aufforde-
rung kommen sollte.
Von Einzelheiten ist noch zu erwähnen: Eine Zeitlang fühlte er den rechten Arm wie gelähmt,
er war am Ellenbogen schmerzhaft, und konnte ihn nicht bewegen. Dadurch fühlte er sich als
 
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