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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0499
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

tiv die Sachen nicht gern erzählen.« Man geniere sich, weil die Erlebnisse wirklich waren und man
dabei wach war. Das unterscheide sie vom Traum, den man ohne Gene objektiv erzähle.
Nachdem die akute Psychose abgelaufen war, ging der Kranke zur Erholung aufs Land, kam
aber zur Konsultation noch häufig in die Klinik. Es wurden noch eine Reihe abnormer Erschei-
nungen beobachtet:
Die Gemütszustände waren anfangs noch zum Teil extremer Art. Der Kranke fühlte sich manch-
mal sehr glücklich. »Alle Melancholie, aller Druck, alle Schwermut ist weg. Das ist nun alles durch
das Delirium erledigt.« Dieses war gleichsam notwendig, »um die Spannung los zu werden«. »Nun
392 ist alle philosophische Bohrerei über den Haufen geworfen, ich kann ganz | naiv leben.« So traten
lebensfreudige Stimmungen auf, wie er sie noch nie hatte. Er fühlte sich »ganz anders, gestärkt«. Den
ganzen Tag scherzte er, fühlte sich lustig und fidel, scherzte auch über seinen eigenen Zustand.
Während der ganzen letzten Jahre, meint er, sei er dagegen immer gedrückt gewesen.
Demgegenüber machten sich aber bald entgegengesetzte Stimmungen geltend. Er fühlte sich
hoffnungslos, sah sich keinen Lebensaufgaben gewachsen, wußte nicht, was aus ihm werden
sollte, sah das Leben als eine Unmöglichkeit an, hatte Selbstmordgedanken, aber nicht ernste.
»Ich will mir eben das Leben nicht nehmen, ich kann’s nicht.« Solche verzweifelte Trostlosig-
keit konnte hohe Grade erreichen und trat manchmal anfallsweise auf, so daß sie spontan kam
und nach einer Stunde wieder verschwunden war.
In den ersten Tagen nach der Psychose war er einen Tag in seiner Heimat. Hier machte er einen
sehr kurz dauernden merkwürdigen Zustand durch. Er hatte eine Art Traum, war jedoch nicht im
Halbschlummer, sondern bei geschlossenen Augen völlig wach mit dem richtigen Bewußtsein
seiner körperlichen Lage. Er hatte plötzlich unter Schwindel und Durcheinander im Kopf »eine
Veränderung« erlebt und sah in diesem völlig wachen Zustand im Vorstellungsraum mit großer
Deutlichkeit, wie ein Wärter ein Glas Wein ins Zimmer brachte, das der Kranke zurückwies. Wie-
der ging eine kleine »Veränderung« vor sich, und er sah nun im Augenschwarz einen Totenkopf.
Diesen faßte er fest ins Auge, lachte ihn an und fühlte dabei seine Stärke. Er fühlte einen Druck
auf den Lidern, daß er sie geschlossen halten sollte. Der Totenkopf zerplatzte. Es blieb ein klei-
nes Nachbild übrig, das wie ein Auge aussah und schnell verschwand. Dabei hatte er das Gefühl,
daß sein eigener Kopf zum Totenkopf wurde. Er fühlte wie die Kopfhaut schwand, die Knochen
und die Zähne klapperten. Das beobachtete er ohne Angst und Gruseln wie ein interessantes
Phänomen. Er wollte mal sehen, was kommt. Dann war ziemlich plötzlich alles vorbei, er machte
die Augen auf und war wie vorher. Dieser ganze Zustand, bei dem er immer gänzlich wach war,
dauerte vielleicht 30 Sekunden, höchstens.
In den weiteren Wochen las der Kranke auf dem Lande (Anatole France u.a.), ging manchmal
zur Stadt ins Theater und beschloß Kunstgeschichte oder Literatur zum Beruf zu machen. Oft
zweifelte er an seinen Kräften und seiner Energie. Er nimmt es aber immer wieder in Aussicht.
Trotz seines geordneten Lebens zeigten sich noch manche Erscheinungen. Abends wurde es ihm
manchmal unheimlich, wenn im Tal ein Vogel rief und dann näher kam, als ob das etwas bedeute.
Er meint, das sei »an der Grenze«. Solche Gefühle könnten Gesunde genau so haben. Oder wenn
ein Schrank im Nebenzimmer gerückt wurde, so hörte er wieder die klagende Materie. Mit dem
Winde fächelte der Luftgeist ihm ins Zimmer. Im Bellen des Hundes hörte er: »Du Narr, du Narr.«
Alles dies kommt ihm auch gegen seinen Willen. Er weiß die Abnormität und Irrealität, aber er
kann sich manchmal so wenig wehren, daß ihn das »du Narr« geradezu ärgert. Doch sei dies alles
ähnlich so, wie wenn ein Gesunder absichtlich seine Gefühle und sein Hören so einstelle.
 
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