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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0503
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460

Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

reale Welt war eine Scheinwelt für ihn. Doch zweifelt er noch, hatte z.B. nicht die Cou-
rage, dem Kutscher bloß io Pf. zu geben, um den gesuchten Beweis für den bloßen
Schein der realen Welt zu haben. Mit Zunahme der Psychose schwand der Zweifel
immer mehr, aber als Orientierung in der Scheinwelt blieb seine richtige Orientierung
neben dem Leben in der eigentlich wirklichen, übersinnlichen Welt bestehen. Er
wußte, daß er in der Scheinwelt nun in die Zelle für Tobsüchtige gebracht wurde, daß
er an religiösem Wahnsinn leide, daß er nach Heidelberg überführt wurde. Er suchte
im ganzen Verlauf der Psychose immer mit dieser Scheinwelt, die ja doch bloß Schein
ist, einen gewissen Scherz zu treiben. Er konnte immer Scheinwelt und übersinnliche
Welt klar unterscheiden. Keine Verwirrung, keine Spur von Ratlosigkeit trat auf. Dement-
sprechend war auch, was der Kranke tat, vielfach doppelt motiviert. Er hatte, wie er sagt,
ein irdisches und ein transzendentales Motiv, ein Motiv der Scheinwelt und ein Motiv
der übersinnlichen Welt, so z.B., wenn er seine Exkremente entleerte: aus körperlichem
Drang und aus dem Bewußtsein, »das letzte Schlechte müsse aus seinem übersinnli-
chen Wesen entfernt werden.« Zuletzt, als der Kranke, trotzdem er die übersinnliche
Welt für die einzig wirkliche hielt, doch zur »realen« Scheinwelt zurückkehren wollte,
trennte er ebenfalls deutlich beide Reiche. So war der Kranke also immer auch richtig ori-
entiert. Gewisse Handlungen, die objektiv verworren anmuteten, wie das Urinieren ins
Trinkglas, erklärte uns der Kranke, der sich ihrer gut erinnert, aus Zerstreuung. Er war
im Augenblick zu sehr beim Übersinnlichen, mußte aus transzendentalem Motiv sofort
den »Rest des Schlechten« entfernen und tat das ins Wasserglas aus falschen unkontrol-
lierten Vorstellungen, die in der Krankengeschichte beschrieben sind.
Um dies Erleben der doppelten Orientierung nicht als ein individuelles Phänomen
unseres Kranken - es mutet eigentümlich als philosophische Reminiszenz an - erschei-
nen zu lassen, setzen wir zum Vergleich einige Stellen aus der Selbstschilderung
Nervals',905 der eine in vieler Beziehung ähnliche schizophrene Psychose durch-
machte, hierher:
»Hier hat für mich das begonnen, was ich das Hineinwachsen des Traumes in die Wirklichkeit
nennen will. Von diesem Moment gewann alles mitunter ein doppeltes Aussehen - und zwar ohne
daß das Denken jeder Logik entbehrte und das Gedächtnis die geringsten Einzelheiten dessen,
was mir widerfuhr, verloren hätte.«906 »Ich weiß nicht, wie ich auseinandersetzen soll, daß in
meinen Gedanken die irdischen Ereignisse mit denen der übernatürlichen Welt zusammen fal-
len konnten; das ist leichter zu fühlen, als klar auszudrücken.«907... »In dem, was diese Leute zu
mir sagten, lebte ein doppelter Sinn, wenn sie sich auch oft davon keine Rechenschaft ablegten,
396 da sie ja nicht so >im Geist< waren, wie ich.«9°8... »Aber | meinem Gedanken nach waren die irdi-
schen Ereignisse mit denen der unsichtbaren Welt verbunden. Das ist eine jener seltsamen Bezie-
hungen, über die ich mir selbst keine Rechenschaft ablege, und die man leichter andeuten als
erklären kann.«909 - -

G. de Nerval, Aurelia, deutsch München 1910.
 
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