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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0509
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

beginnt das Erleben von neuem. Um dies Erlebnis der versagenden Katastrophe deutlich
zu kennzeichnen, führen wir zum Vergleich ein Beispiel aus einem andern Fall an:
Der Kranke, Kapellmeister Beinmann (klassische Dementia praecox, anfangs paranoider, spä-
ter katatoner Form), verfaßte eine schriftliche Selbstschilderung, besonders über die Beeinflus-
sung von Apparaten. Wir sind an der Stelle, wo er erwartete, sterben zu müssen, in die ewige
Seligkeit einzugehen. Er war in überwältigender Freudenstimmung. »Meine Freude, daß ich jetzt
in den Himmel komme, wurde immer mehr gesteigert, ach und die Freude, da seh ich die Emmy
(verstorbene Schwester), ach die Emmy ... Dann rief ich mit ziemlich kräftiger Stimme: >Also
adieu holde Kunst und ... no ja ... also los, ich zähl auf drei, dann gehts los ... eins ... zwei... drei
... Halt erst auf los. Also ...1,2,3 los!! < Dann gings aber nicht los, sondern der Apparat schnappte
und gab mir meine natürliche Stimmung wieder. Papa sagte dann: >Karl, du mußt dich jetzt hin-
legen und ruhig sein.< Ich dachte damals wirklich, ich müßte sterben, ich würde durch Elektri-
zität verbrannt, das wäre nur ein Schlag und dann wäre ich selig.« -
Das Persönlichkeitsbewußtsein des Kranken in der Psychose hatte auch gleichsam die
doppelte Orientierung. Er war sich immer bewußt, der Josef Mendel zu sein, und gleich-
zeitig war er Gott, Sohn des Königs Otto, die ganze Welt usw. - Mehrfach kommt eine
Verdoppelung des Kranken vor. Es handelt sich hier nicht um ganz klare phänomenolo-
gische Tatbestände. Wir kennen allgemein das Erlebnis der eigenen Verdoppelung in
der Weise, daß nebeneinander wirklich zwei Persönlichkeiten mit der Fülle der Gefühle
erlebt werden, und wir kennen die Verdoppelung, bei der das Individuum sich nur ein-
mal erlebt, aber außer sich einen andern sieht, den er für seinen Doppelgänger halten
muß, ohne diesen auch von innen als Verdoppelung zu erleben. Der Kranke fühlte sich
in seiner Schwester andersgeschlechtlich verdoppelt, später ebenso in der ihn beglei-
tenden Dame Mona Lisa. Er fühlte später sich selbst körperlich zweigeschlechtlich und
401 erlebte den Geschlechtsakt zwischen diesen beiden Personen | in sich. Schließlich
fühlte er sich einmal als den andern seziert, während er selbst im Bett lag.
Von den abnormen Gefühlszuständen verweisen wir auf die Vermehrung und Ver-
tiefung der Einfühlungserlebnisse vor der Psychose, ferner auf die Übersicht seiner
abnormen Gefühle, S. 454. Nur ein Gefühl heben wir besonders heraus, das uns bei sol-
chen Psychosenformen charakteristischerweise aufzutreten scheint: das schließliche
Gefühl der Gleichgültigkeit. Der Ausgang des Ganzen wird ihm egal, er fühlt sich passiv.
Dies Gefühl, das wir auch im ersten Falle bemerkten, wird von einem andern Kranken, der
Religionskrieg, Weltbrand, ein Gewehrgeknatter und einen Kanonendonner erlebte, »wie man
ihn in Wirklichkeit im wildesten Kampfgewühl nicht hören kann«,914 beschrieben: »Übrigens
hatte ich die schrecklichsten Phasen meiner Halluzinationen mit dem stoischsten Gleichmut
durchgemacht, gerade als ob ich mir bewußt gewesen wäre, daß der ganze Rummel doch nur
ein Humbug sei und bald aufhören müsse.«1915

Fehrlin, Die Schizophrenie. Im Selbstverlag. (Selbstschilderung eines Schizophrenen.)
 
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