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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0515
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

net, ist folgende: Menschen, die unbedingt von ihren Trieben beherrscht werden, sich
nichts versagen und dabei bloß in der Sphäre des mehr sinnlichen Genießens des Lebens
und des Ringens um Macht und Geltung bleiben, nicht in der Hingabe an absolute Werte
dieser Werte selbst wegen leben, benutzen skeptische Gedankengänge als Mittel, um in
sophistischer Weise ihre Handlungen und Eigenschaften vor sich selbst oder vor ande-
ren dadurch zu rechtfertigen, daß sie entgegenstehende Forderungen als höchst zwei-
felhaft und unbegründet darstellen. Die treibende psychologische Kraft ist der unbe-
dingte Wille, den Trieben und Neigungen zu folgen, das Begehrte, und sei es heute das
Gegenteilige vom Gestrigen, zu erlangen; Skeptizismus ist eines der Hilfsmittel. Von sol-
chen Skeptikern unterscheidet sich unser Kranker dadurch, daß jene sehr sichere Men-
schen sind, die in jedem Falle wissen, was sie tun wollen, während unserem Kranken
gerade diese Sicherheit des Stellungnehmens überall abgeht, ferner dadurch, daß jenen der
Skeptizismus bloß Hilfsmittel ist, während er bei unserem Kranken sich aus unbezwei-
felbarer ursprünglicher Hingabe an Werte entwickelte.
Eine andere seltenere Form des Skeptizismus ist der rein theoretisch gedachte Skepti-
zismus. Menschen, die in jedem praktischen Fall wohl wissen, was sie wollen, und was
ihnen einleuchtend, was einsichtig ist, kommen beim allgemeinen erkenntnistheore-
tischen Nachdenken zum Resultat, daß es nirgends Sicherheit gibt, daß alles Erleben
der Sicherheit bloß Gewohnheit ist usw. Sie halten diese Meinung als rein wissen-
schaftliche für zwingend begründet, lassen aber der praktischen Sicherheit (dem belief
Humes)918 ihr volles Recht. Auch diese Menschen unterscheiden sich auf ähnliche
Weise wie die vorigen von unserem Kranken: ihre Skepsis ist nur gedacht und als theo-
retische Einsicht zum Inhalt gemacht, die Skepsis unseres Kranken ist qualvolles tägli-
ches Erleben, für das die theoretische Formulierung - die sich in nichts von altbekann-
ten Gedankengängen der Philosophen unterscheidet - bloß Ausdruck ist.
Eine weitere, dritte und seltenste Form der Skepsis ist die skeptische Geisteshaltung
der Menschen, die überall vorsichtig, zweifelnd bezüglich eines endgültigen Urteils,
sei es eines wissenschaftlichen, sei es eines Werturteils sind, die aber durch Gründe
und Gegengründe, Motive und Gegenmotive, positive und negative Wertung nicht in
ewigem Schwanken hin und her geworfen werden, sondern die im theoretischen Zwei-
fel eine subjektive, psychologische Vereinheitlichung erleben, die ferner praktisch in
jeder Situation zum Handeln, zum Urteilen für diesen Augenblick, zum Entscheiden,
wo das reale Leben Entscheidung verlangt, kommen. Wenn möglichster Reichtum der
Inhalte, möglichste Weite und Freiheit des Geistes bei persönlicher Vereinheitlichung
im Leben ein Kriterium seelischer Gesundheit ist, so sind diese Art Skeptiker die gesun-

Skeptizismus tritt im wesentlichen in zwei Formen auf, i. als Leugnung aller Werte, der Wahrheit
sowohl wie ethischer, religiöser, ästhetischer Werte, 2. unter Anerkennung der Existenz von Wer-
ten als Behauptung, daß Menschen niemals diese Werte erfassen können, vielmehr sie immer nur
widerspruchsvoll, in Verhüllungen usw. ergreifen.
 
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