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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0526
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Über leibhaftige Bewußtheiten

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Von der Frage, ob der Tatbestand der Phänomene die gegebene Beschreibung und
Unterscheidung rechtfertigt, ist zu trennen die Frage nach der Genese der Bewußthei-
ten. Die Bewußtheiten des normalen Lebens beruhen entweder auf vorhergehenden
sinnlich-leibhaftigen Wahrnehmungen (wie im Falle des im Rücken sitzenden Freun-
des) oder auf gleichzeitigen, aber unbemerkten Empfindungselementen (wie im Falle
der im Dunkeln bemerkten Wand). Es würde im normalen Seelenleben vielleicht
unwichtig sein, diese | leibhaftigen Bewußtheiten besonders herauszuheben, aber im
pathologischen Seelenleben sind sie eine auffallende, besonders zu kennzeichnende
Erscheinung. Nicht auf Grund vorhergehender leibhaftiger Wahrnehmungen, son-
dern ganz primär, als etwas Unverständliches, psychologisch Letztes tritt hier nicht sel-
ten eine leibhaftige Bewußtheit auf. Sie ist eine häufige phänomenologische Form, in
der den Kranken Inhalte gegeben werden. Wir führen zunächst eine Reihe von Fällen
auf, in denen die wichtigsten Stellen kursiv sind:
1. Der Kranke Kr. (Dementia praecox)298 erzählt: Ich hatte das Gefühl, als ob
jemand in mir war und dann herausging, von der Seite heraus oder wie? Es war ein so son-
derbares Gefühl. Es war als ob dieser Jemand immer neben mir ging. Wenn ich aufstand,
stand er auch auf, wenn ich ging, ging er mit. Er blieb immer an seiner Stelle. Drehte
ich mich um, ihn zu sehen, drehte ersieh mitherum, so daß ich ihn nicht sehen konnte.
Ich habe ihn nie gesehen, habe auch nicht seine Berührung gefühlt. Manchmal hatte ich
das Gefühl, als ob er näher käme oder ferner rückte. - Der Kranke hat ihn nie mit der
Hand gefühlt, hat ihn nie gesehen, hat sich gar nichts anschaulich vorgestellt, fühlte
sich dabei beobachtet, urteilte aber, das Ganze sei nichts als Täuschung.
2. Der Bankbeamte L. (Dementia praecox) steht im Beginn seines Prozesses. Eine
akute Psychose hat er noch nicht durchgemacht. Er klagt über körperliche Verände-
rung, Arbeitsunfähigkeit, ist religiös geworden, hört Stimmen, wird durch Stimmen
aufgeweckt u. dgl. Schon seit Jahren hat er das Gefühl, als ob auf Weg und Steg die Seele
des verstorbenen Vaters bei ihm sei. Dafür fand er auch gelegentlich sinnlich-greifbare
Anhaltspunkte. Wenn er im Bett lag - besonders nach Ausschweifungen -, meinte er,
das röchelnde Atmen seines Vaters zu hören. Er fühlte, als ob der Vater seelisch an ihm
zöge: »Halb Gewissen, halb von außen«. Dann fühlt er, daß der Vater im Raum hinter
ihm ist. Er sah sich um »zum Trotz«, machte nach hinten abwehrende Bewegungen. Der
Kranke meinte: »Jetzt scheint er mich ganz am Kragen zu haben«. Niemals hat er eine
körperliche Berührung von seifen des Vaters gefühlt. Er fühlte aber »in der Phantasie«
genau, wo der Vater hinter ihm oder schräg hinter ihm, seitwärts links oder rechts, in
jedem Augenblick war. Niemals hat er ihn »Gesicht gegen Gesicht« gesehen. Der Kranke
wendete sich um, rief: »Weg da«. Er findet es lächerlich und doch glaubt er an die Reali-
tät: »weil ich religiös bin, weil ich mich durchgerungen habe«. Diese Seele hat nun
auch Einfluß auf seine Gedanken. Er spürt das nicht direkt, aber denkt es sich. Die Seele
sorgt, daß im Kino kein Platz ist, wenn er hingeht, sorgt überhaupt dafür, daß er zu

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