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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0527
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484

Über leibhaftige Bewußtheiten

einem guten Lebenswandel kommt. Wenn er in die Kirche geht, so meint er, die Seele
des Vaters habe ihm das eingegeben.
3. Die Kranke Kra. (Dementia praecox) hatte in besonnenem Zustande - sie ging
von Hause fort in die Kirche - das Gefühl, als ob sie beim Weglaufen von hinten fortge-
schoben würde. Sie fühlte nichts an ihrem Körper, wurde nicht angefaßt. Sie hat sich oft
umgesehen, sah aber nie jemanden. Es war ihr bestimmt so zumut, daß der Mensch etwa
i bis 2 Meter hinter ihr war. Er verfolgte sie, bis sie in der Kirche war. Es war »jemand«,
wer, das weiß sie nicht, vielleicht eine alte Frau, von der sie sich schon lange verfolgt
glaubte. Manchmal hörte sie: - sie betont sofort, wir würden es nicht gehört haben,
416 nur sie, so anders war es - »so mußt fort«, das war das einzige hinzukommende, | viel-
leicht sinnlich-anschauliche Element, das vielleicht pseudohalluzinatorisch, viel-
leicht aber auch bloß Bewußtheit war. Denn es haben gut beobachtende Kranke
manchmal auch angegeben, daß ihnen Worte eigentlich nicht gesagt wurden, sondern
daß sie sie bloß wußten. So schreibt Nerval* von gewissen Inhalten: »Dies sind unge-
fähr die Worte, die mir entweder gesagt wurden, oder deren Bedeutung ich zu erfassen
glaubte.«925
4. Der Kranke Dr. M. (Dementia praecox) machte bei der Kurmusik in einem
Badeorte während seines akuten psychotischen Zustandes stehend lebhafte, der Musik
entsprechende Bewegungen. Er erwartete eine von ihm geliebte Dame. Bei den rhyth-
mischen Bewegungen begleitete ihn ein sehr intensives Erlebnis. Anfangs fühlte er:
die Dame ist noch nicht da. Dann: jetzt könnte sie da sein. - Jetzt spür ich: sie macht
die Bewegungen mit. Etwa 10 Meter hinter mir, mir mit dem Rücken zugekehrt, folgte sie
jeder kleinsten Regung. Der Kranke sah sie gar nicht und hatte sie nicht gesehen, aber er
wußte es ganz sicher. Diese intensivste Wirklichkeit war überwältigend. Den Sinnen
traute er weniger. »Es war evident«, so meinte er, wenn schon ein Ausdruck aus der
Lehre von der normalen Überzeugung genommen werden solle. Er wußte ganz
bestimmt: es war diese Dame. Er wußte, daß sie genau dieselben Bewegungen machte, wie
er, obgleich er sie auf keine Weise körperlich fühlte und wahrnahm. Wenn ein blasses
Vorstellungsbild das Bewußtsein von der Gegenwart der Dame begleitete, stellte er sie
sich jedenfalls ohne Besonderheiten in normalen Kleidern vor. Demselben Kranken
waren während der folgenden erlebnisreichen Psychose zahlreiche Inhalte als leibhaf-
tige Bewußtheiten gegeben. So fühlte er zu bestimmter Zeit: jetzt kommt eine Göttin.
Er fühlte, daß sie draußen ist und er fühlte: es ist die Mona Lisa.
5. Der Kranke Sch. (Dementia praecox) verfaßte eine lange Selbstschilderung, in
der folgende Beschreibung vorkommt: »Mir war, als ob hinter dem Bett jemand gewesen
wäre, der meine ganze Ansprache (die psychotischen Reden) aufschrieb, um sie am
nächsten Tage in der Zeitung zu veröffentlichen. Ich sagte zu diesem unsichtbaren Gei-
ste mehrmals: »Nicht wahr, Sie haben mich verstanden, das, was ich eben von Jesus

Nerval, Aurelia (Selbstschilderung einer Dementia praecox), München 1910, S. 70.
 
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