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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0531
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488

Über leibhaftige Bewußtheiten

gefunden habe. Ich bemerkte sein Fortgehen wie sein Kommen: ein flüchtiges Rauschen
durch die Tür, und die grauenerregende Wahrnehmung verschwand.937 - Noch zwei-
mal in meinem Leben habe ich dasselbe Gefühl des Grauens gehabt. Das eine Mal dau-
erte es eine volle Viertelstunde. Alle dreimal war die Gewißheit, daß da im Raum ein
Etwas stand, unendlich viel stärker, als wenn ich mich in Gesellschaft lebender Wesen
befand. Das Etwas war mir nahe und erschien mir viel realer als irgendeine gewöhnliche
Wahrnehmung. Obgleich ich fühlte, daß es mir ähnlich war, endlich, klein und gleich-
sam bekümmert, so erkannte ich es doch nicht als irgendein Einzelwesen oder als eine
bestimmte Person«.938 - - Nach der Schilderung einer Ekstase wird beschrieben, »daß
Gott während dieser Ekstase weder Gestalt, noch Farbe, noch Geruch hatte, noch mei-
nen Händen greifbar war; auch war das Gefühl seiner Gegenwart nicht mit einer
bestimmten Raumvorstellung verbunden. Es war vielmehr, als ob ich selbst durch die
Gegenwart eines reinen Geisteswesens verwandelt war. Aber je mehr ich nach Worten
suche, um diesen intimen Verkehr auszumalen, desto deutlicher sehe ich die Unmög-
lichkeit, das Erlebnis durch unsere gewöhnlichen Bilder zu beschreiben. Der geeignet-
ste Ausdruck für das, was ich empfand, ist schließlich dieser: Gott war mir nahe,
obgleich unsichtbar; ich erfaßte ihn nicht durch einen meiner Sinne, aber er war mei-
nem Bewußtsein gegenwärtig«.939
In dem letzten Falle hatte der Inhalt der leibhaftigen Bewußtheit nicht nur keine
sinnlich-anschauliche, sondern auch keine räumliche Bestimmtheit, während in den
meisten Fällen die leibhaftige Bewußtheit wenigstens im Raum irgendwo lokalisiert
gefühlt wird.
Es liegt ferner nahe, bei den leibhaftigen Bewußtheiten an die sogenannten extra-
kampinen Halluzinationen (Bleuler)549 zu denken, die den Kranken ebenfalls, ohne daß
sie mit den äußeren Sinnesorganen etwas sehen, etwas leibhaftig mit dem Bewußtsein
der Realität vor die Seele bringen. Diese Kranken »sehen« in voller Deutlichkeit hinter
sich einen ganz bestimmten Menschen. Aber dies Gesichtsbild ist kein leibhaftiges,
sondern ein vorstellungsmäßiges. Es ist die detaillierte, ganz unabhängig vom Willen
420 des Kranken mit | plötzlicher Lebhaftigkeit auf tretende Vorstellung, deren Inhalt ein-
mal als wahnhaft wirklich oder ein andermal als gegenwärtig, leibhaftig wirklich erlebt
wird. Bei der leibhaftigen Bewußtheit ist das begleitende Vorstellungsbild gänzlich
unbemerkt oder in blassen Andeutungen gegeben, bei jenen Pseudohalluzinationen
reich, detailliert, farbig usw. Daß zwischen beiden wiederum Übergänge vorkommen,
ist natürlich.
Schließlich denken wir zum Vergleich an die jedermann bekannten, bei manchen
Menschen häufiger und intensiver auftretenden Erlebnisse, in denen wir fühlen, als
ob jemand gegenwärtig sei. Es sind das Erlebnisse, denen selbst schon nur ein blasser
Charakter eignet, geschweige daß im Urteil irgendeine Realität auch nur in Erwägung
gezogen würde:
 
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