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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0569
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Stellenkommentar

517 Jaspers ließ Edmund Husserl einen Sonderdruck dieses Aufsatzes zukommen, den der Phi-
losoph zwar dankbar entgegennahm, aber nur oberflächlich kommentierte: »Durch die
gütige Zusendung Ihrer ausgezeichneten Arbeit z. Analyse der Trugwahrnehmung (die
sicher ihren verdienten Erfolg haben wird) und durch Ihre sehr freundlichen Begleitzeilen
haben Sie mir eine große Freude gemacht. Ich danke Ihnen sehr. Ich begrüße die phäno-
menologische Reform der Psychiatrie. Ich begreife, daß die Psychiater besser und rascher
die grundlegende Bedeutung der immanenten Phänomenologie für eine wirklich wissen-
schaftliche und nützliche Psychologie erkannt haben als die Experimentalpsychologen,
die sich (was aus der Entstehung der modernen exp. Psychologie verständlich ist) in ihren
Fragestellungen und Methoden viel zu sehr von der physikalisch orientirten Physiologie
haben leiten lassen. Ich beobachte mit Genugthuung das tiefdringende Verständnis, mit
dem einige jüngere Psychiater sich in die Schwierigkeiten phänomenologischer Arbeits-
methode hinein gefunden haben. Es braucht Ihnen keine Sorge zu machen, daß Sie sich
nicht ganz klar darüber werden können, was eigentlich Phänomenologie sei. [...] Die Haupt-
sache ist, daß man zunächst im Einzelnen, an den bestimmt gestellten speciellen Proble-
men der Psychologie (wie der Erkenntniskritik u. sw.) die unbedingte Notwendigkeit der
consequenten und ehrlichen phänomenol. Analyse erfasst, daß man dann die rechte Ein-
stellung lernt, in der alles empirisch Hinzuappercipirte, Angelernte, Hinzugedachte, alles
conventionelle Gerede, alle psychophys. Mythologeme radical bei Seite geschoben und = o
gesetzt wird, und einzig und allein das gilt, was in reiner Intuition zur Gegebenheit kommt.
Wie schwer das ist, wissen Sie sehr wohl, da Sie sich so tüchtig eingearbeitet haben.«
(E. Husserl an K. Jaspers, 17. Oktober 1911, in: Jaspers: KorrespondenzenII, 374-375). Trotzdem
freute sich Jaspers über Husserls Reaktion, die er den Eltern am 20. Oktober 1911 stolz wei-
terleitete: »Husserl ist einer der ersten, wenn nicht der erste Philosoph, der z. Zeit tätig ist.
Er ist vor allem Logiker. Ich habe eine von ihm geübte Methode z. Teil in meiner Arbeit ange-
wandt. Man spricht von >Phaenomenologie<. Ich hatte ihm bescheiden geschrieben, dass
mir seine einzelnen Analysen sehr überzeugend gewesen seien, dass ich aber eigentlich
nicht klar wüsste, was Phaenomenologie eigentlich sei - das war als Angriff gemeint, denn
ich glaube, er weiss es selber nicht. [...] Ich habe mich über den Brief sehr gefreut, wenn-
gleich er etwas väterlich ist. Aber dass Husserl, der auf diesem Gebiet der erste und urteils-
fähigste ist, meine Arbeit anerkennt, ist mir viel wert.« (DLA, A: Jaspers). Zu Jaspers’ Bezie-
hung zu (und Umgang mit) Husserl siehe S. Luft: »Zur phänomenologischen Methode in
Karl Jaspers’ Allgemeiner Psychopathologie«, in: S. Rinofner-Kreidl, H. A. Wiltsche (Hg.): Karl
Jaspers’ Allgemeine Psychopathologie zwischen Wissenschaft, Philosophie und Praxis, Würzburg
2008,31-51.
518 Wie Jaspers in der Anmerkung andeutet, lehnt sich Husserl an den Philosophen Franz
Brentano (1838-1917) an, dessen Vorlesungen er vom WS 1884/85 bis WS 1885/86 besuchte.
Zu Husserls Anwendung von Brentanos Lehre siehe z.B. R. Rollinger: Husserl’s Position in the
School ofBrentano, Dordrecht u.a. 1999.
519 Eine Anspielung auf David Humes berühmtes Beispiel in der »Untersuchung über den
menschlichen Verstand« aus dem Jahre 1748: Wenn eine Billardkugel auf eine andere,
ruhende trifft, dann bewegt sich die zweite. Wir betrachten den Aufprall als Ursache, die
Bewegung der zweiten Kugel als Wirkung. Was uns davon ausgehen lässt, dass dieser Zusam-
menhang kausal notwendig sei, sei jedoch keine objektive Tatsache, sondern lediglich die
Erfahrung aus vergangenen Beobachtungen.
 
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