XII Vorwort
lich „nach dem Text, vor dem Text" (vgl. Montinari 1984, 117). Eine umfassende
Erschließung der Lektüren Nietzsches hielt er für wesentlich, um ihren spezifi-
schen Einfluss auf die jeweilige Werkgenese zu erkennen und darüber hinaus
die Position Nietzsches im philosophiegeschichtlichen und kulturhistorischen
Diskurs insgesamt präziser bestimmen zu können. Kurz vor seinem Tod im Jah-
re 1986 formulierte Montinari diese Zielsetzung in einer undatierten hand-
schriftlichen Notiz folgendermaßen: „Wozu dient die Beschäftigung mit der
Bibliothek Nietzsches? Dazu, eine Brücke zur Kultur seiner Zeit zu schlagen,
seine Originalität tut hierbei nichts zur Sache, es handelt sich darum, eine ho-
mogene Atmosphäre zu rekonstruieren, die allen gemeinsam ist, die im damali-
gen Europa lebten, arbeiteten und dachten" (zitiert nach Campioni 2003, 11;
Übersetzung von Renate Müller-Buck). In diesem Sinne besteht die Aufgabe
quellengeschichtlicher Nietzsche-Forschung in einer möglichst umfassenden
kulturhistorischen Kontextualisierung seines Werks, die relevante Aspekte von
Philosophie, Geschichte, Politik und Literatur gleichermaßen dokumentiert.
Montinari selbst beschreibt den zu erwartenden Erkenntnisgewinn auf der Ba-
sis von quellen- und wirkungsgeschichtlichen Recherchen mit plastischer
Metaphorik: „Um das Ferment N zu isolieren (Thema der Nietzsche-Forschung)
muß man die Nährlösung kennen, in der es gewirkt hat" (ebd., 11-12).
Auch wenn Montinaris Vorstellung von einer „homogene[n] Atmosphäre"
im geistigen Europa heutzutage zugunsten einer Pluralität kulturhistorischer
Diskursvernetzungen zu verabschieden wäre, die auch heterogene Konzepte
mit einschließen, sind seine philologischen Grundprinzipien bis heute aktuell
geblieben. Analogen Prämissen ist der „Historische und kritische Kommentar
zu Friedrich Nietzsches Werken" verpflichtet. Die Intention dieses großange-
legten Forschungsprojekts der „Heidelberger Akademie der Wissenschaften"
zielt darauf, durch umfassende Kontextualisierung zu einer realistischeren Ein-
schätzung von Nietzsches Bedeutung in der Philosophie- und Kulturgeschichte
beizutragen. Deshalb basiert auch der vorliegende Kommentarband auf gründ-
lichen Quellenstudien, um prägende Einflüsse auf die Unzeitgemässen Betrach-
tungen zu rekonstruieren und die Diskurse zu erschließen, in denen sich Nietz-
sche als Autor bewegte. Auch die Darstellung von Ambivalenzen, Brüchen und
Inkonsistenzen in seinem gedanklichen Duktus ändert allerdings nichts an
dem unbestreitbaren Faktum, dass Nietzsches Werke späteren Generationen
von Philosophen, Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern zahlreiche
und nachhaltige Impulse gaben. So wurde seinem CEuvre eine außergewöhn-
lich breite Wirkungsgeschichte zuteil. Sie hält bis heute an und manifestiert
sich in einer selbst für Nietzsche-Spezialisten nicht mehr überschaubaren Fülle
von Forschungsergebnissen.
Für den vorliegenden Kommentar gilt der Inhalt der „Allgemeinen Einlei-
tung", die den Band 1/1 des Nietzsche-Kommentars der „Heidelberger Akademie
lich „nach dem Text, vor dem Text" (vgl. Montinari 1984, 117). Eine umfassende
Erschließung der Lektüren Nietzsches hielt er für wesentlich, um ihren spezifi-
schen Einfluss auf die jeweilige Werkgenese zu erkennen und darüber hinaus
die Position Nietzsches im philosophiegeschichtlichen und kulturhistorischen
Diskurs insgesamt präziser bestimmen zu können. Kurz vor seinem Tod im Jah-
re 1986 formulierte Montinari diese Zielsetzung in einer undatierten hand-
schriftlichen Notiz folgendermaßen: „Wozu dient die Beschäftigung mit der
Bibliothek Nietzsches? Dazu, eine Brücke zur Kultur seiner Zeit zu schlagen,
seine Originalität tut hierbei nichts zur Sache, es handelt sich darum, eine ho-
mogene Atmosphäre zu rekonstruieren, die allen gemeinsam ist, die im damali-
gen Europa lebten, arbeiteten und dachten" (zitiert nach Campioni 2003, 11;
Übersetzung von Renate Müller-Buck). In diesem Sinne besteht die Aufgabe
quellengeschichtlicher Nietzsche-Forschung in einer möglichst umfassenden
kulturhistorischen Kontextualisierung seines Werks, die relevante Aspekte von
Philosophie, Geschichte, Politik und Literatur gleichermaßen dokumentiert.
Montinari selbst beschreibt den zu erwartenden Erkenntnisgewinn auf der Ba-
sis von quellen- und wirkungsgeschichtlichen Recherchen mit plastischer
Metaphorik: „Um das Ferment N zu isolieren (Thema der Nietzsche-Forschung)
muß man die Nährlösung kennen, in der es gewirkt hat" (ebd., 11-12).
Auch wenn Montinaris Vorstellung von einer „homogene[n] Atmosphäre"
im geistigen Europa heutzutage zugunsten einer Pluralität kulturhistorischer
Diskursvernetzungen zu verabschieden wäre, die auch heterogene Konzepte
mit einschließen, sind seine philologischen Grundprinzipien bis heute aktuell
geblieben. Analogen Prämissen ist der „Historische und kritische Kommentar
zu Friedrich Nietzsches Werken" verpflichtet. Die Intention dieses großange-
legten Forschungsprojekts der „Heidelberger Akademie der Wissenschaften"
zielt darauf, durch umfassende Kontextualisierung zu einer realistischeren Ein-
schätzung von Nietzsches Bedeutung in der Philosophie- und Kulturgeschichte
beizutragen. Deshalb basiert auch der vorliegende Kommentarband auf gründ-
lichen Quellenstudien, um prägende Einflüsse auf die Unzeitgemässen Betrach-
tungen zu rekonstruieren und die Diskurse zu erschließen, in denen sich Nietz-
sche als Autor bewegte. Auch die Darstellung von Ambivalenzen, Brüchen und
Inkonsistenzen in seinem gedanklichen Duktus ändert allerdings nichts an
dem unbestreitbaren Faktum, dass Nietzsches Werke späteren Generationen
von Philosophen, Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern zahlreiche
und nachhaltige Impulse gaben. So wurde seinem CEuvre eine außergewöhn-
lich breite Wirkungsgeschichte zuteil. Sie hält bis heute an und manifestiert
sich in einer selbst für Nietzsche-Spezialisten nicht mehr überschaubaren Fülle
von Forschungsergebnissen.
Für den vorliegenden Kommentar gilt der Inhalt der „Allgemeinen Einlei-
tung", die den Band 1/1 des Nietzsche-Kommentars der „Heidelberger Akademie