Überblickskommentar, Kapitel III.6: Rezeption 53
metaphysik: „Ein glückliches Leben ist unmöglich: das höchste, was der
Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf" (PP II, Kap. 14,
§ 172 a, Hü 342). In seinem Schopenhauer-Essay (1938) betrachtet Thomas Mann
N. konstant als „Schopenhauerianer", vor allem im Feld der „Entlarvungs-Psy-
chologie" (Bd. IX, 572, 578). Und wenn er zudem N.s „Abhängigkeit bis zuletzt
von Schopenhauers Aristokratismus der Leidensfähigkeit" betont (Bd. IX, 570),
dann spielt er auf die These in Jenseits von Gut und Böse an, es bestimme „bei-
nahe die Rangordnung, wie tief Menschen leiden können" (KSA 5, 225, 20-
21). „Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt" (KSA 5, 225, 31-32). Schon in
UB III SE sieht N. den „Schopenhauerischen Menschen" (371, 20) und den Ge-
nius durch Leiden gekennzeichnet (vgl. ebd., 371-375). Analog geht Thomas
Mann, der in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) bekennt, der frühe
N. habe „erzieherisch am tiefsten" auf ihn gewirkt (Bd. XII, 541), von der
„adelnden Berufenheit" vor allem „des Genius" zum „Leiden" aus (Bd. IX, 570).
Konsequenterweise trägt daher sein Wagner-Essay den Titel Leiden und Größe
Richard Wagners. Bereits N. sieht die Biographien Schopenhauers und Wagners
essentiell mit Leiden verbunden, das er auf Schopenhauers Willensmetaphysik
bezieht (vgl. z.B. KSA 1, 478, 9-30). Schon 1874 assoziiert er die geplanten „13
Unzeitgemässen" Betrachtungen mit einem energischen Kampfgestus: „Denn
zuletzt leiden wir alle so tief und schmerzlich, dass man es eben nur im rüstig-
sten Kämpfen aushält, das Schwert in der Hand" (KSB 4, Nr. 360, S. 220, 221).
In weniger militanter Form prolongiert sich ein vom Geistesaristokratismus
und Willensheroismus Schopenhauers und N.s grundierter „pessimistischer
Humanismus" (Bd. IX, 570) in Thomas Manns Schiller-Erzählung Schwere Stun-
de (1905), die „Leiden" mit „Größe" assoziiert und „Talent" als „Schmerz" der
„Ungenügsamkeit" beschreibt (Bd. VIII, 375, 376), sowie in der Künstlernovelle
Der Tod in Venedig (1912): Hier ist von Sympathie mit „aristokratischer Bevorzu-
gung" als verräterischem „Hang" des „Künstlernaturell[s]" (Bd. VIII, 470)
ebenso die Rede wie vom „Heroismus [...] der Schwäche" (ebd., 453) und von
den „Moralisten der Leistung" als den „Helden des Zeitalters" (454). Aschen-
bachs Lebensmaxime ist „Durchhalten" (451); die geballte „Faust" wirkt wie
ihr Sinnbild (451). Wenn Thomas Mann „beinahe alles Große" als „ein Trotz-
dem" beschreibt (vgl. Bd. VIII, 452, 377; Bd. IX, 388, 573), dann erscheint ein
solcher „Sieg" der „Moralität" (Bd. VIII, 452) über dekadente „Velleität" (ebd.,
455) als paradigmatischer Ausdruck eines von Schopenhauer und N. in-
spirierten „Aristokratismus der Leidensfähigkeit" (Bd. IX, 570). (Zum Span-
nungsfeld Moralismus - Ästhetizismus in Thomas Manns Schopenhauer- und
N.-Rezeption vgl. Neymeyr 2020.)
Fast 30 Jahre später formuliert Jean Amery sein positives Urteil über
UB III SE: Ihm scheint unter N.s Unzeitgemässen Betrachtungen dieser Essay
metaphysik: „Ein glückliches Leben ist unmöglich: das höchste, was der
Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf" (PP II, Kap. 14,
§ 172 a, Hü 342). In seinem Schopenhauer-Essay (1938) betrachtet Thomas Mann
N. konstant als „Schopenhauerianer", vor allem im Feld der „Entlarvungs-Psy-
chologie" (Bd. IX, 572, 578). Und wenn er zudem N.s „Abhängigkeit bis zuletzt
von Schopenhauers Aristokratismus der Leidensfähigkeit" betont (Bd. IX, 570),
dann spielt er auf die These in Jenseits von Gut und Böse an, es bestimme „bei-
nahe die Rangordnung, wie tief Menschen leiden können" (KSA 5, 225, 20-
21). „Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt" (KSA 5, 225, 31-32). Schon in
UB III SE sieht N. den „Schopenhauerischen Menschen" (371, 20) und den Ge-
nius durch Leiden gekennzeichnet (vgl. ebd., 371-375). Analog geht Thomas
Mann, der in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) bekennt, der frühe
N. habe „erzieherisch am tiefsten" auf ihn gewirkt (Bd. XII, 541), von der
„adelnden Berufenheit" vor allem „des Genius" zum „Leiden" aus (Bd. IX, 570).
Konsequenterweise trägt daher sein Wagner-Essay den Titel Leiden und Größe
Richard Wagners. Bereits N. sieht die Biographien Schopenhauers und Wagners
essentiell mit Leiden verbunden, das er auf Schopenhauers Willensmetaphysik
bezieht (vgl. z.B. KSA 1, 478, 9-30). Schon 1874 assoziiert er die geplanten „13
Unzeitgemässen" Betrachtungen mit einem energischen Kampfgestus: „Denn
zuletzt leiden wir alle so tief und schmerzlich, dass man es eben nur im rüstig-
sten Kämpfen aushält, das Schwert in der Hand" (KSB 4, Nr. 360, S. 220, 221).
In weniger militanter Form prolongiert sich ein vom Geistesaristokratismus
und Willensheroismus Schopenhauers und N.s grundierter „pessimistischer
Humanismus" (Bd. IX, 570) in Thomas Manns Schiller-Erzählung Schwere Stun-
de (1905), die „Leiden" mit „Größe" assoziiert und „Talent" als „Schmerz" der
„Ungenügsamkeit" beschreibt (Bd. VIII, 375, 376), sowie in der Künstlernovelle
Der Tod in Venedig (1912): Hier ist von Sympathie mit „aristokratischer Bevorzu-
gung" als verräterischem „Hang" des „Künstlernaturell[s]" (Bd. VIII, 470)
ebenso die Rede wie vom „Heroismus [...] der Schwäche" (ebd., 453) und von
den „Moralisten der Leistung" als den „Helden des Zeitalters" (454). Aschen-
bachs Lebensmaxime ist „Durchhalten" (451); die geballte „Faust" wirkt wie
ihr Sinnbild (451). Wenn Thomas Mann „beinahe alles Große" als „ein Trotz-
dem" beschreibt (vgl. Bd. VIII, 452, 377; Bd. IX, 388, 573), dann erscheint ein
solcher „Sieg" der „Moralität" (Bd. VIII, 452) über dekadente „Velleität" (ebd.,
455) als paradigmatischer Ausdruck eines von Schopenhauer und N. in-
spirierten „Aristokratismus der Leidensfähigkeit" (Bd. IX, 570). (Zum Span-
nungsfeld Moralismus - Ästhetizismus in Thomas Manns Schopenhauer- und
N.-Rezeption vgl. Neymeyr 2020.)
Fast 30 Jahre später formuliert Jean Amery sein positives Urteil über
UB III SE: Ihm scheint unter N.s Unzeitgemässen Betrachtungen dieser Essay