Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 341-342 67
jener einen Tugend zu einer rechten Reife und Fruchtbarkeit zu verhelfen. Die
andre Maxime will hingegen, dass der Erzieher alle vorhandenen Kräfte heranzie-
he, pflege und unter einander in ein harmonisches Verhältniss bringe.] Mittels
einer dialektischen Argumentation entfaltet N. die unterschiedlich akzentuier-
ten Bildungskonzepte seiner Zeit: Der Thesis (Perfektionierung von Spezialbe-
gabungen, auch auf Kosten der Gesamtpersönlichkeit) folgt als Antithesis das
humanistische Bildungsideal, das auf eine harmonische Ausbildung aller
Fähigkeiten des Schülers zielt. Mit dem Beispiel des Goldschmieds Cellini be-
gründet N. einerseits den Anspruch dominanter Spezialbegabungen auf ange-
messene Förderung, um andererseits aber gerade vor dem Hintergrund eines
solchen Sonderfalls die ausgewogene Entfaltung sämtlicher Persönlichkeits-
komponenten und ihre harmonische Balance als „Vollendung der Natur" (341,
14-15) zu postulieren. Indem N. letztlich die Synthesis beider Erziehungsprinzi-
pien zum erstrebenswerten Bildungsideal erklärt, formuliert er seine pädagogi-
sche Zielsetzung, „Zentralkraft" und „Peripherie" zu einer lebendigen Einheit
zu vermitteln. - Ausgehend vom Ideal „der harmonischen Persönlichkeiten"
(KSA 1, 299, 4), formuliert N. bereits in UB II HL seine Kritik am gesellschaftli-
chen Primat bloßer Nützlichkeitskriterien. So distanziert er sich von einer ,Ab-
richtung' der Menschen zugunsten „der gemeinsamen möglichst nutzbaren Ar-
beit", indem er erklärt: „Das heisst eben doch nur: die Menschen sollen zu
den Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand
anzulegen; sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevor
sie reif sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden - weil dies ein Luxus
wäre, der ,dem Arbeitsmarkte' eine Menge von Kraft entziehen würde" (KSA 1,
299, 5-11). Diese Problematik unterscheidet sich von der in UB III SE exponier-
ten Alternative der Erziehungsmaximen. Dabei geht es N. letztlich um „die har-
monische Ganzheit und den vielstimmigen Zusammenklang in Einer Natur"
(342, 26-27).
Johann Gottfried von Herder hatte mit seinem Hauptwerk Ideen zur Philoso-
phie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) maßgeblichen Einfluss auf das
Humanitätsdenken der Weimarer Klassik. Er sieht den Menschen in einem
Spannungsfeld von Notwendigkeit und Freiheit: Einerseits sei er existentiell
von naturalen und historischen Faktoren abhängig, andererseits verfüge er je-
doch auch über Freiräume zu autonomer Selbstgestaltung und individueller
Selbstverwirklichung innerhalb sozialer Kontexte. Im Anschluss an den Fort-
schrittsoptimismus der Aufklärung betont Herder, der Mensch könne durch die
Ausbildung zu einer allseitigen Persönlichkeit zur Selbstvervollkommnung ge-
langen. Dazu sei es notwendig, dass er Einseitigkeit vermeide, indem er sein
ganzes Potential entwickle und dabei zugleich emotionale und rationale Kräf-
te, also Erkennen und Empfinden, sowie alle sonstigen Fähigkeiten in ein aus-
jener einen Tugend zu einer rechten Reife und Fruchtbarkeit zu verhelfen. Die
andre Maxime will hingegen, dass der Erzieher alle vorhandenen Kräfte heranzie-
he, pflege und unter einander in ein harmonisches Verhältniss bringe.] Mittels
einer dialektischen Argumentation entfaltet N. die unterschiedlich akzentuier-
ten Bildungskonzepte seiner Zeit: Der Thesis (Perfektionierung von Spezialbe-
gabungen, auch auf Kosten der Gesamtpersönlichkeit) folgt als Antithesis das
humanistische Bildungsideal, das auf eine harmonische Ausbildung aller
Fähigkeiten des Schülers zielt. Mit dem Beispiel des Goldschmieds Cellini be-
gründet N. einerseits den Anspruch dominanter Spezialbegabungen auf ange-
messene Förderung, um andererseits aber gerade vor dem Hintergrund eines
solchen Sonderfalls die ausgewogene Entfaltung sämtlicher Persönlichkeits-
komponenten und ihre harmonische Balance als „Vollendung der Natur" (341,
14-15) zu postulieren. Indem N. letztlich die Synthesis beider Erziehungsprinzi-
pien zum erstrebenswerten Bildungsideal erklärt, formuliert er seine pädagogi-
sche Zielsetzung, „Zentralkraft" und „Peripherie" zu einer lebendigen Einheit
zu vermitteln. - Ausgehend vom Ideal „der harmonischen Persönlichkeiten"
(KSA 1, 299, 4), formuliert N. bereits in UB II HL seine Kritik am gesellschaftli-
chen Primat bloßer Nützlichkeitskriterien. So distanziert er sich von einer ,Ab-
richtung' der Menschen zugunsten „der gemeinsamen möglichst nutzbaren Ar-
beit", indem er erklärt: „Das heisst eben doch nur: die Menschen sollen zu
den Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand
anzulegen; sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevor
sie reif sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden - weil dies ein Luxus
wäre, der ,dem Arbeitsmarkte' eine Menge von Kraft entziehen würde" (KSA 1,
299, 5-11). Diese Problematik unterscheidet sich von der in UB III SE exponier-
ten Alternative der Erziehungsmaximen. Dabei geht es N. letztlich um „die har-
monische Ganzheit und den vielstimmigen Zusammenklang in Einer Natur"
(342, 26-27).
Johann Gottfried von Herder hatte mit seinem Hauptwerk Ideen zur Philoso-
phie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) maßgeblichen Einfluss auf das
Humanitätsdenken der Weimarer Klassik. Er sieht den Menschen in einem
Spannungsfeld von Notwendigkeit und Freiheit: Einerseits sei er existentiell
von naturalen und historischen Faktoren abhängig, andererseits verfüge er je-
doch auch über Freiräume zu autonomer Selbstgestaltung und individueller
Selbstverwirklichung innerhalb sozialer Kontexte. Im Anschluss an den Fort-
schrittsoptimismus der Aufklärung betont Herder, der Mensch könne durch die
Ausbildung zu einer allseitigen Persönlichkeit zur Selbstvervollkommnung ge-
langen. Dazu sei es notwendig, dass er Einseitigkeit vermeide, indem er sein
ganzes Potential entwickle und dabei zugleich emotionale und rationale Kräf-
te, also Erkennen und Empfinden, sowie alle sonstigen Fähigkeiten in ein aus-