78 Schopenhauer als Erzieher
dem, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in's Be-
wußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer's Lehre eingestehe? Ich stehe
fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch.
schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag
alles am Menschen" (KSB 5, Nr. 581, S. 210). Gerade die Reflexionen über
den „Schopenhauerischen Menschen" (371, 20) richtet N. dann allerdings bald
gegen seinen einstigen ,Erzieher': „Der Schopenhauersche Mensch trieb
mich zur Skepsis gegen alles Verehrte Hochgehaltene, bisher Vertheidigte
(auch gegen Griechen Schopenhauer Wagner) Genie Heilige - Pessimismus der
Erkenntniss" (NL 1878, 27 [80], KSA 8, 500). In einem Kapitel der Götzen-Däm-
merung mit dem symptomatischen Titel „Streifzüge eines Unzeitgemässen" po-
lemisiert N. sogar heftig gegen Schopenhauer, indem er ihm „die grösste psy-
chologische Falschmünzerei" unterstellt, weil er die „Exuberanz-Formen des
Lebens" wie Kunst, Heroismus, Schönheit, Erkenntnis, Wahrheitsstreben und
Tragödie auf eine Verneinung des Willens' zurückgeführt habe (KSA 6, 125, 9-
15). Vgl. ergänzend das heterogene Spektrum von Selbstaussagen N.s in Kapitel
III.3 des Überblickskommentars.
346, 31 - 347, 5 Schopenhauer will nie scheinen: denn er schreibt für sich, und
niemand will gern betrogen werden, am wenigsten ein Philosoph, der sich sogar
zum Gesetze macht: betrüge niemanden, nicht einmal dich selbst! Selbst nicht
mit dem gefälligen gesellschaftlichen Betrug, den fast jede Unterhaltung mit sich
bringt und welchen die Schriftsteller beinahe unbewusst nachahmen; noch weni-
ger mit dem bewussteren Betrug von der Rednerbühne herab und mit den künstli-
chen Mitteln der Rhetorik.] Im Kontext dieser Aussage bringt N. Redlichkeit,
Wahrheitsethos und Authentizität mit der von Schopenhauer als eine Art von
,Selbstgespräch' (347, 5-6) verstandenen Philosophie in Verbindung. In seiner
Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie erklärt Schopenhauer in einer Fußno-
te dezidiert: „Ich habe die Wahrheit gesucht, und nicht eine Professur" (PP I,
Hü 151-152). Im Text 99 der Fröhlichen Wissenschaft vollzieht N. teilweise eine
nachträgliche Relativierung der intellektuellen Redlichkeit als charakterlicher
Qualität Schopenhauers: vgl. dazu NK 346, 12-14.
Im Kapitel 23 „Ueber Schriftstellerei und Stil" der Parerga und Paralipo-
mena II unterscheidet Schopenhauer „zweierlei Schriftsteller: solche, die der
Sache wegen, und solche, die des Schreibens wegen schreiben. Jene haben
Gedanken gehabt, oder Erfahrungen gemacht, die ihnen mittheilenswerth
scheinen; Diese brauchen Geld [...]. Sie denken zum Behuf des Schreibens.
Man erkennt sie daran, daß sie ihre Gedanken möglichst lang ausspinnen
und auch halbwahre, schiefe, forcirte und schwankende Gedanken ausfüh-
ren, auch meistens das Helldunkel lieben, um zu scheinen was sie nicht sind;
weshalb ihrem Schreiben Bestimmtheit und volle Deutlichkeit abgeht" (PP II,
dem, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in's Be-
wußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer's Lehre eingestehe? Ich stehe
fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch.
schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag
alles am Menschen" (KSB 5, Nr. 581, S. 210). Gerade die Reflexionen über
den „Schopenhauerischen Menschen" (371, 20) richtet N. dann allerdings bald
gegen seinen einstigen ,Erzieher': „Der Schopenhauersche Mensch trieb
mich zur Skepsis gegen alles Verehrte Hochgehaltene, bisher Vertheidigte
(auch gegen Griechen Schopenhauer Wagner) Genie Heilige - Pessimismus der
Erkenntniss" (NL 1878, 27 [80], KSA 8, 500). In einem Kapitel der Götzen-Däm-
merung mit dem symptomatischen Titel „Streifzüge eines Unzeitgemässen" po-
lemisiert N. sogar heftig gegen Schopenhauer, indem er ihm „die grösste psy-
chologische Falschmünzerei" unterstellt, weil er die „Exuberanz-Formen des
Lebens" wie Kunst, Heroismus, Schönheit, Erkenntnis, Wahrheitsstreben und
Tragödie auf eine Verneinung des Willens' zurückgeführt habe (KSA 6, 125, 9-
15). Vgl. ergänzend das heterogene Spektrum von Selbstaussagen N.s in Kapitel
III.3 des Überblickskommentars.
346, 31 - 347, 5 Schopenhauer will nie scheinen: denn er schreibt für sich, und
niemand will gern betrogen werden, am wenigsten ein Philosoph, der sich sogar
zum Gesetze macht: betrüge niemanden, nicht einmal dich selbst! Selbst nicht
mit dem gefälligen gesellschaftlichen Betrug, den fast jede Unterhaltung mit sich
bringt und welchen die Schriftsteller beinahe unbewusst nachahmen; noch weni-
ger mit dem bewussteren Betrug von der Rednerbühne herab und mit den künstli-
chen Mitteln der Rhetorik.] Im Kontext dieser Aussage bringt N. Redlichkeit,
Wahrheitsethos und Authentizität mit der von Schopenhauer als eine Art von
,Selbstgespräch' (347, 5-6) verstandenen Philosophie in Verbindung. In seiner
Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie erklärt Schopenhauer in einer Fußno-
te dezidiert: „Ich habe die Wahrheit gesucht, und nicht eine Professur" (PP I,
Hü 151-152). Im Text 99 der Fröhlichen Wissenschaft vollzieht N. teilweise eine
nachträgliche Relativierung der intellektuellen Redlichkeit als charakterlicher
Qualität Schopenhauers: vgl. dazu NK 346, 12-14.
Im Kapitel 23 „Ueber Schriftstellerei und Stil" der Parerga und Paralipo-
mena II unterscheidet Schopenhauer „zweierlei Schriftsteller: solche, die der
Sache wegen, und solche, die des Schreibens wegen schreiben. Jene haben
Gedanken gehabt, oder Erfahrungen gemacht, die ihnen mittheilenswerth
scheinen; Diese brauchen Geld [...]. Sie denken zum Behuf des Schreibens.
Man erkennt sie daran, daß sie ihre Gedanken möglichst lang ausspinnen
und auch halbwahre, schiefe, forcirte und schwankende Gedanken ausfüh-
ren, auch meistens das Helldunkel lieben, um zu scheinen was sie nicht sind;
weshalb ihrem Schreiben Bestimmtheit und volle Deutlichkeit abgeht" (PP II,