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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0110
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Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 348 83

rade den Gedanken, den er jetzt hat, auch im Leser zu erwecken und keinen
andern" (PP II, Kap. 23, § 283, Hü 551). Vgl. auch die Belege in NK 346, 31 -
347, 5 und NK 347, 31-32.
348, 15 Ehrlichkeit] N. attestiert seinem Lehrer Schopenhauer hier und auf den
folgenden Seiten die moralische Qualität, die dieser selbst in seiner Schrift Ue-
ber die Universitäts-Philosophie für den seriösen Philosophen postuliert: eine
„Redlichkeit" (PP I, Hü 202, 204), für die sogar Leiden in Kauf genommen wird.
Vgl. auch 371, 20-22: „Der Schopenhauerische Mensch nimmt das
freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich." Ähnlich wie N.
(366, 20, 22) kontrastiert auch Schopenhauer in der Schrift Ueber die Universi-
täts-Philosophie (PP I, Hü 202) ein unbedingtes Wahrheitsethos mit einer prag-
matischen, durch andersgeartete Zwecke bedingten Verlogenheit. - Dass N.
in UB III SE so dezidiert die charakterlichen Qualitäten Schopenhauers betont,
insbesondere „Ehrlichkeit, „Heiterkeit und „Beständigkeit" (350, 1), ist durch
seine am Paradigma der „Philosophen Griechenlands" (350, 29) ausgerichtete
Idealvorstellung des Philosophen bedingt. Infolgedessen schreibt N. dem exis-
tentiellen Bezug der Philosophie und der Vorbildfunktion des authentischen
Beispiels zentrale Bedeutung zu. Diese Priorität erhellt in UB III SE insbesonde-
re aus dem Beginn des 3. Kapitels: „Ich mache mir aus einem Philosophen
gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben" (350, 23-24). Diese
Präferenz bestimmt auch ein Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit von
UB III SE, in dem N. keineswegs den Anspruch erhebt, „Schopenhauer richtig
verstanden" zu haben; stattdessen betont er die wichtige Funktion, die sein
,Erzieher' Schopenhauer als Stimulans für seine eigene Selbsterkenntnis ge-
habt habe (NL 1874, 34 [13], KSA 7, 795-796). Bezeichnenderweise akzentuiert
N. hier die Strategie zur Selbstfindung durch persönliche Orientierung am phi-
losophischen Vorbild, die gerade „für Menschen geeignet" ist, „welche eine
Philosophie für ihr Leben" suchen (ebd.). Zur partiellen nachträglichen Relati-
vierung der intellektuellen Redlichkeit Schopenhauers, die N. in der Fröhlichen
Wissenschaft vollzieht, vgl. NK 346, 12-14.
348, 16 Montaigne] Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592) begründete mit
seinen Essais (1580) die Gattung des Essays. Unter ,Essai' verstand er primär
ein methodisches Experimentieren mit intellektuellen Möglichkeiten. In seinen
meditativen und skeptischen Essais, in deren Zentrum zumeist der reflektieren-
de Mensch steht, versucht sich Montaigne seinen Themen durch permanente
Perspektivenwechsel ohne ein konkret vorgegebenes Erkenntnisziel prozessual
zu nähern. Auf diese Weise will er die Leser zu eigenem Nachdenken anregen,
statt sie moraldidaktisch zu belehren. - N. war mit Montaignes Essais durch
Wagner bekannt geworden, der sie ihm zu Weihnachten 1870 geschenkt hatte.
 
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