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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0122
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Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 351-352 95

(ebd., Bd. 3, 39). Erkenntnisse „a priori" definiert Kant als solche, die „von
aller Erfahrung unabhängig stattfinden" (ebd., 28). Dann formuliert er eine
Kapitelüberschrift als These: „Die Philosophie bedarf einer Wissen-
schaft, welche die Möglichkeit, die Principien und den Um-
fang aller Erkenntnisse a priori bestimme" (ebd., 30). Und schon
1783 spricht Kant in seinen Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik,
die als Wissenschaft wird auftreten können von „der Metaphysik, als einer spe-
culativen Wissenschaft der reinen Vernunft" (AA 4, 371).
N. betont im vorliegenden Textzusammenhang das vorbildliche Beispiel
des Philosophen Schopenhauer und kontrastiert dessen Philosophie mit einer
von empirischer Erfahrung abgelösten esoterisch-weltfernen Vorstellung von
Wissenschaft und Philosophie. Damit schließt er an Thesen an, die er in
UB III SE bereits zuvor formuliert hat (vgl. 350, 23-31). Vgl. außerdem 417, 26-
29. Den existentiellen Bezug N.s zu Schopenhauer als „Vaterfigur, Vorbild,
Begleiter und Gesprächspartner, Leitfigur wie Arzt und Helfer dieser frühen
Jahre" betont Wachendorff 1998, 58. - Schopenhauers eigenem Philosophie-
Verständnis entspricht diese Einschätzung N.s allerdings nicht. Das erhellt bei-
spielsweise aus einer These in Schopenhauers Hauptwerk: „Das ganze Wesen
der Welt abstrakt, allgemein und deutlich in Begriffen zu wiederholen, und es
so als reflektirtes Abbild in bleibenden und stets bereit liegenden Begriffen der
Vernunft niederzulegen: dieses und nichts anderes ist Philosophie" (WWV I,
§ 68, Hü 453). Und im Kontext dieser These, die Kants Prämissen näher steht
als der Vorstellung von Philosophie, die N. in UB III SE entwirft, beschreibt
Schopenhauer die Differenz von Theorie und Praxis als legitim (ebd.). Vgl. dazu
NK 350, 23-31.
352, 6-12 Ein neuerer Engländer schildert die allgemeinste Gefahr ungewöhnli-
cher Menschen, die in einer an das Gewöhnliche gebundenen Gesellschaft leben,
also: „solche fremdartige Charaktere werden anfänglich gebeugt, dann melan-
cholisch, dann krank und zuletzt sterben sie. Ein Shelley würde in England nicht
haben leben können, und eine Rasse von Shelley's würde unmöglich gewesen
sein".] Mit der Paraphrase „Ein neuerer Engländer" ist Walter Bagehot (1826-
1877) gemeint. N. zitiert hier aus Bagehots Werk Der Ursprung der Nationen.
Betrachtungen über den Einfluß der natürlichen Zuchtwahl und der Vererbung
auf die Bildung politischer Gemeinwesen (1874, 167). An späterer Stelle von
UB III SE nimmt N. explizit auf Bagehot Bezug (420, 13-14), und zwar mit ei-
nem längeren Zitat, das - ganz in N.s Sinne - eine massive Kritik an den Sys-
temphilosophen formuliert (420, 14-29). Percy Bysshe Shelley (1792-1822), den
Walter Bagehot in N.s Zitat erwähnt, war ein englischer Schriftsteller, der in
seiner Lyrik entschieden gegen Tyrannei und Unterdrückung protestierte.
 
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