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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0134
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Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 354-355 107

„Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit" erlitten (355, 27). Aller-
dings vermutet N., dass „nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig einge-
griffen" hat (355, 15-16). Sein Urteil über die Bedeutung Kants zeigt Affinitäten
zu Schopenhauers Feststellung in der Schrift Ueber die Universitäts-Philoso-
phie: „Kant ist vielleicht der originellste Kopf, den jemals die Natur hervorge-
bracht hat" (PP I, Hü 181). In der Kantischen Transzendentalphilosophie sieht
Schopenhauer „die wichtigste Lehre, welche seit 2000 Jahren aufgestellt wor-
den" ist (PP I, Hü 180, 181). Für einen fatalen Irrtum hält er die Anmaßung der
„drei Sophisten" (PP I, Hü 195, 179) Fichte, Schelling, Hegel und ihrer Anhän-
ger, „Kants mühsälige Vorarbeit" durch die eigenen Werke überboten zu haben
(PP I, Hü 179). Diese Hybris führte laut Schopenhauer zur Verdrängung Kants,
einer „Weltepoche in der Philosophie" (PP I, Hü 191), und damit zum „Rück-
schritt vom größten Fortschritt, den jemals die Philosophie gemacht" hat (PP I,
Hü 182). Dieser „philosophische Skandal" der „letzten 50 Jahre" (PP I, Hü 191)
ist nach Schopenhauers Überzeugung durch die Universitäten und die akade-
mische Philosophie überhaupt erst möglich geworden. Zur Bedeutung Kants
vgl. ergänzend auch PP I, Hü 197-200.
355, 24 Skepticismus und Relativismus] Während der absolute Skeptizismus
jede Möglichkeit einer verlässlichen Erkenntnis der Wirklichkeit negiert und
auch die sinnliche Wahrnehmung als Basis von Erfahrung in Frage stellt, be-
zweifelt der relative Skeptizismus lediglich die Erkenntnismöglichkeiten in be-
stimmten Bereichen, etwa in der Theologie oder in der Ethik. Die Vertreter des
Relativismus setzen die Möglichkeit von Erkenntnis jeweils nur innerhalb be-
stimmter Rahmenbedingungen voraus, die sich auch durch den historischen
Normenwandel verändern können. Unter diesen Prämissen negieren sie abso-
lute Geltungsansprüche sowohl in der theoretischen als auch in der prakti-
schen Philosophie. Kant setzt in seiner Transzendentalphilosophie die skepti-
sche Methode ein, um die Vernunft von jedem Dogmatismus zu befreien und
,Kritik' im Sinne einer fundierten Unterscheidung zu ermöglichen.
355, 29 - 356, 8 „Vor Kurzem [...] wurde ich mit der Kantischen Philosophie
bekannt [...]. - Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen,
wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. Ist's das Letztere, so ist die
Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben,
ein Eigenthum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich. -
Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über
einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt.
Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken und ich habe keines mehr."] N.
zitiert hier (mit Kürzungen und nicht ganz korrekt) aus einem Brief, den Hein-
rich von Kleist am 22. März 1801 an seine Braut Wilhelmine von Zenge richtete.
 
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