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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0136
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Stellenkommentar UB III SE 3, KSA 1, S. 355 109

sächlich eine existentielle ,Kantkrise' mit Bezug zum erkenntnistheoretischen
Perspektivismus oder zur moralphilosophischen Skepsis an und entwickelte
auf dieser Basis Hypothesen, welche Werke (u. a. von Kant, Fichte und Rein-
hold) als akute Ursachen für Kleists intellektuelle Krisensituation fungiert ha-
ben könnten (vgl. Greiner 2009, 206-208). Andererseits jedoch wurde die ver-
meintliche ,Kantkrise' Kleists durch eine Analyse seiner Briefe in Zweifel
gezogen und als bloße Inszenierung des Autors selbst verstanden, der sich von
seinen wissenschaftlichen Studien bereits Monate vor der behaupteten ,Kant-
krise' abgewandt habe und dies keineswegs aufgrund von erkenntniskritischen
Reflexionen, sondern aus pragmatischen Vorbehalten gegen berufliche Festle-
gungen und jedwede Einengung durch ein wissenschaftliches Spezialistentum.
So habe Kleist für seine Neuorientierung durch die Entscheidung für die
Schriftsteller-Existenz dann lediglich eine Legitimation durch eine anerkannte
Autorität gesucht und in diesem Zusammenhang anders motivierte innere Pro-
zesse bloß suggeriert (vgl. dazu Jochen Schmidt 2003, 12-16). Zum Perspektivis-
mus bei N. vgl. Claus Zittel, NH 2000a, 299-301.
Dass N. im vorliegenden Kontext die Argumentation Kleists nicht hinter-
fragt, hängt auch mit seiner eigenen Darstellungsstrategie zusammen: Über die
erkenntnistheoretischen Implikationen der Kant-Rezeption weist N.s Deutung
der brieflichen Äußerungen Kleists hinaus. Denn sie dient ihm hier auch dazu,
eine existentielle Bedeutung der Philosophie zu propagieren, deren „Sinn" der
Mensch jeweils an seinem „heiligsten Innern" prüfen soll (356, 9-11) - so N. in
Anlehnung an Kleists Formulierung. Insofern erhebt N. die sogenannte ,Kant-
krise' Kleists zum Paradigma einer ,natürlichen' Reaktion auf philosophische
Gedanken (356, 9). Zugleich repräsentiert Kleist für N. die „Verzweiflung an
der Wahrheit", die „Gefahr" für „jeden Denker, welcher von der Kantischen
Philosophie aus seinen Weg nimmt" (355, 8-10). In seiner Schrift Ueber die
Universitäts-Philosophie spricht bereits Schopenhauer dem „Alleszermalmer
Kant" (PP I, Hü 182) eine singuläre Bedeutung zu und bezeichnet die Kantische
Transzendentalphilosophie mit Nachdruck als „die wichtigste Lehre" der letz-
ten zwei Jahrtausende (PP I, Hü 180).
In Menschliches, Allzumenschliches kritisiert N. die Philosophen, weil sie in
ihren Reflexionen die historische Dimension vernachlässigen. Den „Mangel an
historischem Sinn" bezeichnet N. dort als den „Erbfehler aller Philosophen"
(KSA 2, 24, 24-25), die sich seines Erachtens vorschnell auf „eine Analyse" des
„gegenwärtigen Menschen" festlegen, dessen Charakteristika sie „als eine ae-
terna veritas" hypostasieren (KSA 2, 24, 17-20). Insofern attestiert N. den tradi-
tionellen Philosophen eine prekäre Unbelehrbarkeit: „Sie wollen nicht lernen,
dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden
ist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissver-
 
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