Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 305
nigste zu einander gehören. Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer Be-
dürfnisse verwandt, grundverwandt: Europa ist es, das Eine Europa, dessen
Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, hinauf drängt
und sehnt" (KSA 5, 202, 13-18). Die „Auszeichnung" der „Wagnerischen Kunst"
bestehe darin, „aus überdeutschen Quellen und Antrieben zu kommen"
(KSA 5, 203, 20-22).
Mit UB IV WB schließt N. im Jahre 1876 die Frühphase seines Schaffens ab,
die 1872 mit seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der
Musik begonnen hatte. Am 2. Januar 1872 kündigt N. „gebundene Exemplare"
der Tragödienschrift als Weihnachtspräsent für Wagner und seine Frau an und
bezeichnet dieses Werk sogar als „Wahrzeichen" seiner Beziehung zu ihm:
„Auf jeder Seite werden Sie finden, dass ich Ihnen nur zu danken suche"
(KSB 3, Nr. 185, S. 272). - In der Tat zeugt Die Geburt der Tragödie in hohem
Maße von dem Einfluss, den Wagner durch seine theoretischen Schriften, ins-
besondere durch seine Beethoven-Festschrift, und durch gemeinsame Gesprä-
che in Tribschen auf N. genommen hat. Noch im „Versuch einer Selbstkritik",
den N. 1886 seiner Geburt der Tragödie voranstellt, beschreibt er das Werk als
ein „Zwiegespräch" mit dem „grossen Künstler [...] Richard Wagner" (KSA 1,
13, 31-32). Wiederholt spiegelt N. das moderne Musikdrama Wagners und die
antike Tragödie ineinander. Bereits in seinem Vortrag Das griechische Musik-
drama hat N. 1870 im Anschluss an Wagners Konzepte die Idee eines Gesamt-
kunstwerks entworfen und das „Kunstwerk der Zukunft" in einer anachronisti-
schen Rückprojektion damit zu legitimieren versucht, dass es vor mehr als
2000 Jahren „schon einmal Wirklichkeit" war (KSA 1, 532, 3-4).
Wagner dankt dem Autor der Geburt der Tragödie emphatisch: „Schöneres
als Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen! Alles ist herrlich!" (KGB II 2, Nr. 256,
S. 493). Und N. erklärt im selben Monat: „Ich habe mit Wagner eine Alliance
geschlossen"; zugleich betont er, „wie nah wir uns jetzt stehen und wie unsre
Pläne sich berühren" (KSB 3, Nr. 192, S. 279). Im Mai 1872 erfolgt in N.s Beisein
die Grundsteinlegung des Festspielhauses in Bayreuth. Im selben Jahr löst Ul-
rich von Wilamowitz-Moellendorff eine altphilologische Kontroverse aus, in-
dem er sich mit seiner Polemik Zukunftsphilologie! vehement gegen N.s Geburt
der Tragödie wendet. Das Ehepaar Wagner reagiert bestürzt, zumal N.s Reputa-
tion im Wintersemester 1872 dadurch so beschädigt ist, dass er „gar keine Stu-
denten" mehr hat (KGB II 3, Nr. 274, S. 89). Daraufhin setzt sich Richard Wag-
ner mit einem öffentlichen Verteidigungsbrief für N. ein und prophezeit ihm
am 21. September 1873, er sehe die Zeit voraus, „in welcher ich Ihr Buch gegen
Sie zu vertheidigen haben würde" (KGB II 4, Nr. 458, S. 295).
N.s wachsende Tendenz, sich in Bayreuth rar zu machen und sich dadurch
der dominanten Persönlichkeit Wagners zu entziehen, veranlasst diesen be-
reits am 6. April 1874 zu der berechtigten Annahme, dass N. mit auffällig
nigste zu einander gehören. Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer Be-
dürfnisse verwandt, grundverwandt: Europa ist es, das Eine Europa, dessen
Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, hinauf drängt
und sehnt" (KSA 5, 202, 13-18). Die „Auszeichnung" der „Wagnerischen Kunst"
bestehe darin, „aus überdeutschen Quellen und Antrieben zu kommen"
(KSA 5, 203, 20-22).
Mit UB IV WB schließt N. im Jahre 1876 die Frühphase seines Schaffens ab,
die 1872 mit seinem Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der
Musik begonnen hatte. Am 2. Januar 1872 kündigt N. „gebundene Exemplare"
der Tragödienschrift als Weihnachtspräsent für Wagner und seine Frau an und
bezeichnet dieses Werk sogar als „Wahrzeichen" seiner Beziehung zu ihm:
„Auf jeder Seite werden Sie finden, dass ich Ihnen nur zu danken suche"
(KSB 3, Nr. 185, S. 272). - In der Tat zeugt Die Geburt der Tragödie in hohem
Maße von dem Einfluss, den Wagner durch seine theoretischen Schriften, ins-
besondere durch seine Beethoven-Festschrift, und durch gemeinsame Gesprä-
che in Tribschen auf N. genommen hat. Noch im „Versuch einer Selbstkritik",
den N. 1886 seiner Geburt der Tragödie voranstellt, beschreibt er das Werk als
ein „Zwiegespräch" mit dem „grossen Künstler [...] Richard Wagner" (KSA 1,
13, 31-32). Wiederholt spiegelt N. das moderne Musikdrama Wagners und die
antike Tragödie ineinander. Bereits in seinem Vortrag Das griechische Musik-
drama hat N. 1870 im Anschluss an Wagners Konzepte die Idee eines Gesamt-
kunstwerks entworfen und das „Kunstwerk der Zukunft" in einer anachronisti-
schen Rückprojektion damit zu legitimieren versucht, dass es vor mehr als
2000 Jahren „schon einmal Wirklichkeit" war (KSA 1, 532, 3-4).
Wagner dankt dem Autor der Geburt der Tragödie emphatisch: „Schöneres
als Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen! Alles ist herrlich!" (KGB II 2, Nr. 256,
S. 493). Und N. erklärt im selben Monat: „Ich habe mit Wagner eine Alliance
geschlossen"; zugleich betont er, „wie nah wir uns jetzt stehen und wie unsre
Pläne sich berühren" (KSB 3, Nr. 192, S. 279). Im Mai 1872 erfolgt in N.s Beisein
die Grundsteinlegung des Festspielhauses in Bayreuth. Im selben Jahr löst Ul-
rich von Wilamowitz-Moellendorff eine altphilologische Kontroverse aus, in-
dem er sich mit seiner Polemik Zukunftsphilologie! vehement gegen N.s Geburt
der Tragödie wendet. Das Ehepaar Wagner reagiert bestürzt, zumal N.s Reputa-
tion im Wintersemester 1872 dadurch so beschädigt ist, dass er „gar keine Stu-
denten" mehr hat (KGB II 3, Nr. 274, S. 89). Daraufhin setzt sich Richard Wag-
ner mit einem öffentlichen Verteidigungsbrief für N. ein und prophezeit ihm
am 21. September 1873, er sehe die Zeit voraus, „in welcher ich Ihr Buch gegen
Sie zu vertheidigen haben würde" (KGB II 4, Nr. 458, S. 295).
N.s wachsende Tendenz, sich in Bayreuth rar zu machen und sich dadurch
der dominanten Persönlichkeit Wagners zu entziehen, veranlasst diesen be-
reits am 6. April 1874 zu der berechtigten Annahme, dass N. mit auffällig