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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0342
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Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 315

Hinsicht korrespondiert ihre Einschätzung mit dem kritischen Urteil N.s. Zu-
dem habe Wagner „durchaus dem Gotte Zebaoth" geglichen, „der keine ande-
ren Götter neben sich duldet und die Hingabe des ganzen Wesens vom Größten
bis zum Kleinsten fordert" (ebd., 228).
Folgenreiche Entwicklungen in der Biographie des Komponisten trugen
maßgeblich zur Abmilderung von N.s Kritik in UB IV WB bei. Denn Wagners
Schicksalsjahr 1874, das leicht zu einem ökonomischen Desaster und infolge-
dessen zum Abbruch seines Bayreuther Festspiel-Projekts hätte führen kön-
nen, erfuhr wider Erwarten doch noch eine positive Wende, und zwar durch
die großzügige finanzielle Unterstützung, zu der sich König Ludwig II. bereit
erklärte. Vor dem Eintritt dieser überraschenden Schicksalswende analysiert N.
jedoch schon Anfang 1874 mit kühler Distanz die Gründe für Wagners (ver-
meintlich) umfassendes Scheitern: „Er hat sich vom Nachdenken über politi-
sche Möglichkeiten nicht frei gehalten: zu seinem Unglücke auch mit dem
K<önig> v<on> B<ayern>, der ihm erstens sein Werk nicht aufführte, zweitens
es durch vorläufige Aufführungen halb preisgab und drittens ihm einen höchst
unpopulären Ruf schaffte, weil man die Ausschreitungen dieses Fürsten Wag-
ner allgemein zuschreibt. Ebenso unglücklich liess er sich mit der Revolution
ein: er verlor die vermögenden Protectoren, erregte Furcht und musste wieder-
um den socialistischen Parteien als ein Abtrünniger erscheinen: alles ohne je-
den Vortheil für seine Kunst und ohne höhere Nothwendigkeit, überdiess als
Zeichen der Unklugheit, denn er durchschaute die Lage 1849 gar nicht. / Drit-
tens beleidigte er die Juden, die jetzt in Deutschland das meiste Geld und die
Presse besitzen. Als er es that, hatte er keinen Beruf dazu: später war es Rache"
(NL 1874, 32 [39], KSA 7, 766).
Die letzte persönliche Begegnung N.s mit Richard und Cosima Wagner fin-
det bereits im Spätherbst 1876 in Sorrent statt, also noch im selben Jahr, in dem
UB IV WB im Juli rechtzeitig zur Eröffnung der ersten Bayreuther Festspiele
erscheint. Im Jahr 1877 endet dann auch der Briefkontakt zwischen den einsti-
gen Freunden. In einem nachgelassenen Notat aus diesem Jahr charakterisiert
N. „Musik als Austönen einer Cultur. Wagner" (NL 1877, 24 [1], KSA 8, 477). -
Noch Jahre nach der letzten Begegnung ist N. ängstlich darum bemüht, eine
persönliche Begegnung mit Richard Wagner zu vermeiden. Da ihm sehr daran
liegt, auch ein zufälliges Aufeinandertreffen auszuschließen, bittet er seine
Schwester am 6. Juli 1879: „Kannst Du etwas Genaues über R. Wagner's Win-
ter-Reise nach Neapel erfahren, Zeit, Reiseroute usw - ich möchte jede Art
Zusammentreffen verhüten" (KSB 5, Nr. 862, S. 423).
Spätestens seit dem Jahr 1878 hält N. den Bruch mit Wagner für notwendig,
um seine intellektuelle Eigenständigkeit nicht zu gefährden. So erklärt er am
18. November 1878 in einem Brief an Reinhard von Seydlitz: „Über Wagner
 
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