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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0348
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Überblickskommentar, Kapitel IV.3: Ambivalentes Verhältnis zu Wagner 321

Nr. 382, S. 335). Dann bekennt N. sogar heimliche Vernichtungsphantasien:
„Hätte er noch länger gelebt, oh was hätte noch zwischen uns entstehen kön-
nen! Ich habe furchtbare Pfeile auf meinem Bogen, und W<agner> gehörte zu
der Art Menschen, welche man durch Worte tödten kann" (ebd.). Ähnlich
äußert sich N. einen Tag später gegenüber Franz Overbeck, allerdings mit dem
Unterschied, dass er den kritischen Aussagen nun das positive Bekenntnis vo-
ranstellt, er habe durch das Ende der Freundschaft „eine große Entbehrung
gelitten", denn „Wagner war bei weitem der vollste Mensch, den ich ken-
nen lernte" (KSB 6, Nr. 384, S. 337).
Evident werden nicht nur hier die fundamentalen Ambivalenzen in N.s
Verhältnis zu Wagner, die auch in den folgenden Jahren seine Äußerungen
über den einstigen Freund bestimmen. Dass N. seine Polemik gegen Wagner
später noch radikalisiert, zeigt beispielsweise der Brief, den er am 26. März
1885 an Malwida von Meysenbug richtet. Über „R. Wagner's Musik" und Cha-
rakter findet sich hier das Verdikt: „Was mir diese wolkige, schwüle, vor allem
schauspielerische und prätentiöse Musik zuwider ist! [...] Das ist Musik eines
mißrathenen Musikers und Menschen, aber eines großen Schauspie-
lers - darauf will ich schwören" (KSB 7, Nr. 587, S. 30). Noch despektierlicher
äußert sich N. am 20. Oktober 1888 gegenüber derselben Adressatin, indem er
sogar von „einer durch und durch unsauberen und falschen Creatur wie Wag-
ner" und von der „Pest der Wagnerischen Musik" spricht, die eine „Corrup-
tion der Musiker" verursache (KSB 8, Nr. 1135, S. 458-459).
Mit seinem Werk Menschliches, Allzumenschliches, dessen erste Ausgabe
1878 erscheint, noch fünf Jahre vor dem Tod des Komponisten, beginnt N. auch
öffentlich damit, die Haupttendenzen seiner frühen Wagner-Fixierung abzuar-
beiten und sein einstiges Idol zu demontieren. Aus dem Geist skeptisch-aufge-
klärter Desillusionierung revidiert N. in Menschliches, Allzumenschliches die in
der Geburt der Tragödie und in UB IV WB vollzogene Identifikation mit Wag-
ner, und zwar sowohl direkt als auch indirekt. Mit radikaler Ideologiekritik
wendet er sich gegen die traditionelle Metaphysik, Ästhetik und Moral, um
einer Kunst, die sich religiös vereinnahmen lässt, den Untergang zu prognosti-
zieren. Unter seinen neuen Prämissen, die von psychologischen, historischen
und naturwissenschaftlichen Formen des Denkens geprägt sind, setzt sich N.
nun mit der Ideologisierung einer „Cultur"-Reform auseinander, die er bei
Wagner zu erkennen glaubte und sogar mit der Vorstellung der Reformation
assoziierte. Außerdem polemisiert N. gegen den Kult des großen Pathos, des
,großen Menschen' und des ,Genius', der für ihn seit der Geburt der Tragödie
mit Wagner eng verbunden war. Darüber hinaus wendet er sich gegen die Idea-
lisierung und Sakralisierung der ,Kunst', wie sie der Komponist propagierte.
Noch in UB IV WB stilisiert auch N. selbst die Kunst gemäß Wagners ästheti-
 
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