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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0370
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Überblickskommentar, Kapitel IV.5: Struktur 343

rend sich das Christentum als „ein Stück orientalischen Alterthums" historisch
bereits auf dem Rückzug befinde, wachse zugleich der Einfluss des „helleni-
schen Culturwesens" (446), den N. durch Philosophen wie Kant und Schopen-
hauer sowie durch Künstler wie Richard Wagner repräsentiert sieht. Dass sich
zu ihnen geistige Pendants in der antiken Kultur finden lassen, bewertet N. als
Indiz für die Relativität der Zeit, in der wiederkehrende Grundmuster zu erken-
nen seien.
Vor diesem kulturhistorischen Panorama betrachtet N. Richard Wagner als
eine Art „Gegen-Alexander", dessen Aufgabe darin bestehe, nicht „den gordi-
schen Knoten der griechischen Cultur zu lösen" (447), sondern das Aufgelöste
und Divergierende wieder zusammenzubinden. Darüber hinaus sei Wagner
dazu berufen, durch die „höchste und reinste Wirkung der theatralischen
Kunst" (448) die neuen Synthesen auch zu ,beseelen' und mithilfe seiner Thea-
terreform zu einer Verbesserung des modernen Menschen beizutragen. Diesem
Gedanken lässt N. eine kulturkritische Betrachtung folgen: Am Verhältnis zwi-
schen Kunst und modernem Leben in seiner Gegenwart diagnostiziert er eine
„Entartung dieses Lebens" selbst, von der seines Erachtens auch „Wichtig-
thun", Geldgier, Schauspielerei und ein exzessives Bedürfnis nach Unterhal-
tung zeugen (448). Die Depravationen des modernen Theaters sieht N. vor dem
Hintergrund „des griechischen Theaters" in der Antike besonders markant her-
vortreten (449). Seines Erachtens kann das Wissen um die Überlegenheit der
antiken Bühne ein Streben nach höheren künstlerischen Ausdrucksformen för-
dern. In diesem Sinne beschreibt N. auch das Projekt, das Wagner mit der neu-
en Institution der Bayreuther Festspiele realisieren will: Es verspreche eine
„Fülle siegreicher Kunst-Thaten" (449).
N. traut Wagners Bayreuther Unternehmung ein Erweckungserlebnis zu,
das dem Besucher den maroden Zustand der modernen Kunst und Kultur be-
wusst zu machen vermag. Vor dem Hintergrund der kulturellen Krisensituation
könne Wagners musiktheatralische Meisterschaft um so glanzvoller erschei-
nen. Der von Wagner gleichsam Erweckte solle von seinem Erlebnis „Zeugniss
abzulegen" versuchen (450) und zugleich energisch dem großen Feind Bay-
reuths entgegentreten, dem Typus des sogenannten „Gebildeten", der Wagners
Kunst hasse oder ihr zumindest indifferent begegne. Mit diesem Appell verbin-
det N. kulturrevolutionäre Forderungen, die sich gegen das aktuelle Erzie-
hungs- und Bildungswesen (450) sowie gegen die „heutige Cultur" (451) über-
haupt richten und eine umfassende Reform zum Ziel haben.
In den Ruhepausen zwischen den revolutionären Aktivitäten fungiere die
Kunst nicht bloß als „Heil- und Betäubungsmittel" (451). Vielmehr könne das
tragische Kunstwerk von Bayreuth Möglichkeiten eröffnen, im Kulturkampf
„zurückblickend und vorahnend das Symbolische" zu verstehen (451), ein Be-
 
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