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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0403
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376 Richard Wagner in Bayreuth

nicht [...]" (434, 8-11). Auf diese Weise lässt N. durch den gezielten Einsatz von
Stilmitteln eine Rhetorik der Ergriffenheit entstehen, die der Aura des Mysteri-
ums entspricht. Anlässlich von Wagners Bayreuth-Projekt wird die ästhetische
Sphäre im vorliegenden Zusammenhang durch ein religiöses Fluidum über-
höht.
Inwiefern Aspekte einer Kunstreligion auch auf die kulturhistorische Ent-
wicklungsdynamik der modernen Säkularisierung zurückzuführen sind, die
kompensatorische Reflexe zur Folge hatte, zeigt ein nachgelassenes Notat von
1875: Gerade in seiner Gegenwart als einer Epoche „der untergehenden Religio-
nen" sieht N. dort eine neuartige „Periode der Kunst" entstehen (NL 1875,
11 [20], KSA 8, 207). Die religiösen Topoi, die N. in UB IV WB auf Wagners Mu-
sik bezieht, entsprechen dem eigenen Wirkungsanspruch des Komponisten
und reichen bezeichnenderweise bis zu Erlösungsvorstellungen (vgl. NK 463,
31 - 464, 1 und NK 464, 6-12). In welcher Hinsicht die Kunstkonzepte Wagners
den Bereich des Ästhetischen transzendieren, erläutert N. in einem nachgelas-
senen Notat von 1875: „Wie Unrecht thäte man, anzunehmen, Wagner sei es
um die Kunst allein zu thun und er betrachte sie als das Heilpflaster für alle
übrigen elenden Zustände! Sie ist ihm nur der Trost der dvdyKq gegenüber"
(NL 1875, 11 [20], KSA 8, 205). Kurz darauf veranschaulicht N. diese spezifische
Funktion der Kunst folgendermaßen durch suggestive Bilder: „Die Kunst ist
der Traum für den Schlaf des Kämpfers [...]. Der Tag bricht gleich wieder an,
die heiligen Schatten verschweben, und da ist die Kunst fern. Aber ihre Trös-
tung liegt über dem Menschen von der Frühstunde her. So ist sie die höchste
Weltbeglückerin, obschon ihr Glück wie ein Schatten ist" (NL 1875, 11 [20],
KSA 8, 206). Hier prolongieren sich Aspekte der Ästhetik Schopenhauers, der
die Kunst ebenfalls als einen vorübergehenden „Trost" beschreibt (vgl. WWV I,
Hü 316). Vgl dazu Neymeyr 1996a, 409-424.
Kulturhistorische Akzente setzt N., wenn er in diesem Nachlass-Notat an-
schließend Kunst und Religion korreliert: „So ist die Kunst eine höhere Stufe
der Religion, ohne deren gemeine Grundmotive, Betteln bei den Göttern und
Abkaufen von etwas, ohne die niedrige Sucht nach Gewinn. Und so erscheint
auch historisch die Kunst am Aussterben der Religionen; freilich werden dann
gewöhnlich die Religionen noch durch die Kunst conservirt, durch Tempel
Festaufzüge Ritual, dramatische Schaustellungen; dazu die vererbte Dankbar-
keit gegen die mythischen Gestalten, welche der Kunst zu Gute kommen"
(NL 1875, 11 [20], KSA 8, 206). Gerade weil „dem Einzelnen" in der Epoche „der
untergehenden Religionen" eine „immer höhere Spannung zugemuthet wird",
sieht N. die Menschen seiner eigenen Zeit in eine neuartige Kunstperiode ge-
langen, „wie sie noch nie nöthig war und noch nie da war" (NL 1875, 11
[20], KSA 8, 207). Diese generelle Charakterisierung der Kunst lässt sich - N.s
 
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