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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0449
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422 Richard Wagner in Bayreuth

und entsprechender Ausdruck vorhanden war: bei uns ist die echte Kunst re-
volutionär, weil sie nur im Gegensätze zur gültigen Allgemeinheit existiert"
(GSD III, 28). Diese Konstellation exemplifiziert Wagner mit dem antiken und
dem neuzeitlichen Theater. Das „große Gesamtkunstwerk der Tragödie" (GSD
III, 12), das nach der griechischen Antike durch den Zerfall des ,Gemeingeistes'
verloren ging, soll im Rahmen einer ,großen Menschheitsrevolution' durch
,Wiedergeburt‘ restituiert werden (GSD III, 29). Und die Wiedervereinigung der
einzelnen Künste im ,Kunstwerk der Zukunft' imaginiert Wagner in einem Kor-
respondenzverhältnis zur Einheit einer ,brüderlichen Menschheit' (GSD III, 33).
Seine soziokulturelle Utopie richtet Wagner an geschichtsphilosophischen
Konzepten der deutschen Idealisten aus. Allerdings adaptiert er dabei nicht
das mit dem Griechenland-Mythos verbundene Nachahmungspostulat, weil er
den Anspruch auf die „Restauration eines Scheingriechenthums im Kunstwer-
ke" für verfehlt hält (GSD III, 30). Vgl. dazu NK 447, 9-10.
Die radikalen ästhetischen Auffassungen Wagners am Ende der 1840er Jah-
re hängen mit seinen eigenen revolutionären Aktivitäten zusammen und sind
nicht nur von geschichtsphilosophischen Kulturmodellen des Deutschen Idea-
lismus, sondern auch von Konzepten Michail Bakunins beeinflusst, der die
Idee eines kollektivistischen Anarchismus entfaltete und - wie Wagner selbst -
am Maiaufstand 1849 in Dresden beteiligt war. In der revolutionären Bewegung
sah Richard Wagner eine Chance, über die politischen und sozialen Verhältnis-
se hinaus zugleich auch das Theater zu verändern. Insofern gehören sein Bay-
reuth-Projekt sowie seine auf eine Theaterreform zielenden Schriften, die auf
Unabhängigkeit von staatlichen Zwängen und auf Autonomie zielen, „in den
Kontext der Revolution; ihr Thema ist gewissermaßen eine Reform des deut-
schen Theaterbetriebes aus dem Geist der Revolution" (Kühnel 1986, 488). In
den Züricher Kunstschriften Wagners kehren Gedanken wieder, die er zuvor
bereits in seinen Revolutionsschriften und in den Konzepten zur Theaterreform
entfaltet hat. - Analog zu Wagner betont auch N. in UB IV WB die Kohärenz
aller gesellschaftlichen Phänomene (vgl. 448, 8-10). Wie sehr vorübergehend
auch N. selbst von Wagners revolutionärem Gestus infiziert war, zeigt der Ap-
pell am Ende eines nachgelassenen Notats von 1875: „Nieder mit der Kunst,
welche nicht in sich zur Revolution der Gesellschaft, zur Erneuerung und Eini-
gung des Volkes drängt!" (NL 1875, 11 [28], KSA 8, 218).
Eine umfassende Theaterreform propagierte Wagner 1851 in seiner Schrift
Ein Theater in Zürich (GSD V, 20-52). Durch die Schaffung deutscher ,Original-
theater' wollte er die unfruchtbare „Nachahmung der Pariser Bühnen" (GSD V,
25) suspendieren. Um das Theater wieder zu einem wichtigen „Moment des
öffentlichen Lebens" zu machen (GSD V, 37), postulierte Wagner 1863 in der
Schrift Das Wiener Hof-Operntheater (GSD VII, 272-295) eine Abschaffung des
 
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