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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0477
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450 Richard Wagner in Bayreuth

keit ist mit dem Drang der „bewegende[n] und gestaltende[n] Seele der Musik"
verbunden (458, 26-27), die sich im Wagnerschen Gesamtkunstwerk durch die
Erscheinungen der theatralischen Szene einen „Leib" schafft. In diesem Sinne
betont N., „dass die Seele der Musik sich jetzt einen Leib gestalten will" (458,
12-13). Damit trägt er dem Selbstverständnis Wagners Rechnung, das dieser in
seinen theoretischen Schriften prononciert zum Ausdruck bringt. Wagner sieht
seine Opernkompositionen aus einer inneren Notwendigkeit entstehen. Des-
halb tendiert er dazu, sie in Relation zu den Werken früherer Opernkomponis-
ten als einzig legitime darzustellen und für sie insofern einen singulären Status
zu beanspruchen. Unter dem Einfluss sensualistischer Tendenzen des Jungen
Deutschland' spricht Wagner vor allem in seinen um 1850 entstandenen Wer-
ken oft konkret vom „Leib" und der leiblichen „Gebärde" - ein Echo darauf
findet sich bereits in N.s Tragödienschrift. Im vorliegenden Kontext ist sogar
von „Gymnastik" die Rede (458, 4). Auch damit schließt N. an Wagner an;
vgl. NK 458, 3-9.
Über die Spezifika der Musikästhetik hinaus ist das Spannungsfeld zwi-
schen einer bloß dekorativen äußerlichen Dimension und einer allein als sub-
stantiell geltenden Innerlichkeit auch in einem weiteren Horizont für N.s kriti-
sche Kulturdiagnosen relevant: Ähnlich wie Wagner zielt N. auf eine von Innen
her formierte und legitimierte „Cultur" und „Bildung", die allein er in UB II
HL als genuin und substantiell betrachtet, und zwar im Gegensatz zu bloßer
„Gebildetheit" als unauthentischer Äußerlichkeit, die er für das Versatzstück
einer lediglich „dekorativen Cultur" hält (KSA 1, 334, 12-13). Vgl. dazu ausführ-
licher NK 450, 8-13.
Im zweiten seiner fünf Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstal-
ten bringt N. diese Opposition in Verbindung mit nationalen Gesichtspunkten:
mit der Differenz zwischen deutscher und französischer Mentalität, die er pla-
kativ durch die Relation zwischen Kultur und Zivilisation beschreibt; dabei be-
zieht er exemplarisch auch die Musik mit ein: „Was dagegen sich jetzt mit be-
sonderem Dünkel ,deutsche Kultur' nennt, ist ein kosmopolitisches Aggregat,
das sich zum deutschen Geiste verhält, wie der Journalist zu Schiller, wie Mey-
erbeer zu Beethoven: hier übt den stärksten Einfluß die im tiefsten Fundamen-
te ungermanische Civilisation der Franzosen" (KSA 1, 690, 6-11). In der 1872
verfassten Vorrede für seine fünf Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungs-
anstalten plädiert N. dafür, „über die Zukunft unserer Bildung nachzudenken"
(KSA 1, 649, 16), und nimmt für sich selbst in Anspruch, „ein stark entzündetes
Gefühl für das Spezifische unserer gegenwärtigen deutschen Barbarei" zu be-
sitzen (KSA 1, 650, 8-10).
457, 27-29 „Nur die Galeerensclaven kennen sich, - sagt Tasso - doch wir ver-
kennen nur die Anderen höflich, damit sie wieder uns verkennen sollen."] Vgl.
 
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