Stellenkommentar UB IV WB 8, KSA 1, S. 472-473 491
unbedingt sichrer Wirkung [...], eine Scene, die umwirft - diese denkt er in
die Tiefe, aus ihr zieht er erst die Charaktere. [...] Er sucht sich selbst zuerst
die Wirkung seines Werkes zu garantiren, er beginnt mit dem dritten Akte, er
beweist sich sein Werk mit dessen letzter Wirkung" (KSA 6, 32, 8-22).
Die konkreten Wirkungen Wagnerscher Musik charakterisiert N. als hypno-
tisch oder narkotisch, ja sogar ausdrücklich als pathogen. Im „Versuch einer
Selbstkritik", den N. der Geburt der Tragödie vierzehn Jahre nach der Erstpubli-
kation für die neue Ausgabe von 1886 vorangestellt hat, verurteilt er Wagners
Musik als „eine Nervenverderberin ersten Ranges, [...] als berauschendes und
zugleich benebelndes Narkotikum" (KSA 1, 20, 24-28). In Ecce homo be-
zeichnet er die Musik Wagners explizit als „eine narkotische Kunst", als „Opi-
at" (KSA 6, 325, 21, 29). Und in Der Fall Wagner charakterisiert er den Kompo-
nisten als einen Verführer, der „mit Musik hypnotisirt" (KSA 6, 29, 4-5), ja
geradezu „der Meister hypnotischer Griffe" ist (KSA 6, 23, 16-17). Seine polemi-
sche Quintessenz zu diesem „Künstler der decadence", der „uns die
Gesundheit verdirbt" (KSA 6, 21, 12-14), treibt N. mit rhetorischen Fragen
schließlich bis zur Pathologisierung: „Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er
nicht eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt, - er hat die
Musik krank gemacht -" (KSA 6, 21, 15-17).
473, 11-14 eine noch „praesumptuösere" Natur als Goethe, der von sich sagte:
„immer dachte ich, ich hätte es schon; man hätte mir eine Krone aufsetzen kön-
nen und ich hätte gedacht, Das verstehe sich von selbst."] Vgl. Goethe: „Ich habe
niemals einen presumptuoseren Menschen gekannt als mich selbst, Und daß
ich das sage zeigt schon daß wahr ist was ich sage. Niemals glaubte ich daß
etwas zu erreichen wäre immer dacht ich ich hätt es schon. Man hätte mir eine
Krone aufsetzen können und ich hätte gedacht das verstehe sich von selbst.
Und doch war ich gerade dadurch nur ein Mensch wie andre. Aber daß ich das
über meine Kräfte ergriffne durch zu arbeiten, das über mein Verdienst erhalte-
ne zu verdienen suchte, dadurch unterschied ich mich blos von einem wahr-
haft Wahnsinnigen" (Goethe: FA, Abt. I, Bd. 13, 209).
473, 27-28 So verstand er denn die grosse Oper als sein Mittel] In Richard
Wagners Text Eine Mittheilung an meine Freunde heißt es: „Die ,große Oper',
mit all' ihrer scenischen und musikalischen Pracht, ihrer effektreichen, musi-
kalisch-massenhaften Leidenschaftlichkeit, stand vor mir; und sie nicht etwa
bloß nachzuahmen, sondern, mit rückhaltsloser Verschwendung, nach allen
ihren bisherigen Erscheinungen sie zu überbieten, das wollte mein künstleri-
scher Ehrgeiz" (GSD IV, 258). - Bei der Grand opera, der ,großen Oper', handelt
es sich um den französischen Typus der ernsten oder tragischen Oper, die sich
im 19. Jahrhundert vor allem auf bedeutende historische Stoffe konzentrierte
unbedingt sichrer Wirkung [...], eine Scene, die umwirft - diese denkt er in
die Tiefe, aus ihr zieht er erst die Charaktere. [...] Er sucht sich selbst zuerst
die Wirkung seines Werkes zu garantiren, er beginnt mit dem dritten Akte, er
beweist sich sein Werk mit dessen letzter Wirkung" (KSA 6, 32, 8-22).
Die konkreten Wirkungen Wagnerscher Musik charakterisiert N. als hypno-
tisch oder narkotisch, ja sogar ausdrücklich als pathogen. Im „Versuch einer
Selbstkritik", den N. der Geburt der Tragödie vierzehn Jahre nach der Erstpubli-
kation für die neue Ausgabe von 1886 vorangestellt hat, verurteilt er Wagners
Musik als „eine Nervenverderberin ersten Ranges, [...] als berauschendes und
zugleich benebelndes Narkotikum" (KSA 1, 20, 24-28). In Ecce homo be-
zeichnet er die Musik Wagners explizit als „eine narkotische Kunst", als „Opi-
at" (KSA 6, 325, 21, 29). Und in Der Fall Wagner charakterisiert er den Kompo-
nisten als einen Verführer, der „mit Musik hypnotisirt" (KSA 6, 29, 4-5), ja
geradezu „der Meister hypnotischer Griffe" ist (KSA 6, 23, 16-17). Seine polemi-
sche Quintessenz zu diesem „Künstler der decadence", der „uns die
Gesundheit verdirbt" (KSA 6, 21, 12-14), treibt N. mit rhetorischen Fragen
schließlich bis zur Pathologisierung: „Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er
nicht eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt, - er hat die
Musik krank gemacht -" (KSA 6, 21, 15-17).
473, 11-14 eine noch „praesumptuösere" Natur als Goethe, der von sich sagte:
„immer dachte ich, ich hätte es schon; man hätte mir eine Krone aufsetzen kön-
nen und ich hätte gedacht, Das verstehe sich von selbst."] Vgl. Goethe: „Ich habe
niemals einen presumptuoseren Menschen gekannt als mich selbst, Und daß
ich das sage zeigt schon daß wahr ist was ich sage. Niemals glaubte ich daß
etwas zu erreichen wäre immer dacht ich ich hätt es schon. Man hätte mir eine
Krone aufsetzen können und ich hätte gedacht das verstehe sich von selbst.
Und doch war ich gerade dadurch nur ein Mensch wie andre. Aber daß ich das
über meine Kräfte ergriffne durch zu arbeiten, das über mein Verdienst erhalte-
ne zu verdienen suchte, dadurch unterschied ich mich blos von einem wahr-
haft Wahnsinnigen" (Goethe: FA, Abt. I, Bd. 13, 209).
473, 27-28 So verstand er denn die grosse Oper als sein Mittel] In Richard
Wagners Text Eine Mittheilung an meine Freunde heißt es: „Die ,große Oper',
mit all' ihrer scenischen und musikalischen Pracht, ihrer effektreichen, musi-
kalisch-massenhaften Leidenschaftlichkeit, stand vor mir; und sie nicht etwa
bloß nachzuahmen, sondern, mit rückhaltsloser Verschwendung, nach allen
ihren bisherigen Erscheinungen sie zu überbieten, das wollte mein künstleri-
scher Ehrgeiz" (GSD IV, 258). - Bei der Grand opera, der ,großen Oper', handelt
es sich um den französischen Typus der ernsten oder tragischen Oper, die sich
im 19. Jahrhundert vor allem auf bedeutende historische Stoffe konzentrierte