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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0554
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Stellenkommentar UB IV WB 9, KSA 1, S. 488-489 527

tischen Neuorientierung, die Wagner unter dem Einfluss seiner Schopenhauer-
Rezeption vollzogen hat, vgl. das Kapitel IV.3 im Überblickskommentar und
NK 454, 11-14.
N.s Auffassung, dass Wagners „Musik die Grundregungen im Innern der
darstellenden Personen des Drama's unmittelbar auf die Seelen der Zuhörer"
übertrage, korrespondiert bis in die Wortwahl hinein mit den Prämissen von
Schopenhauers Musikmetaphysik. In der Welt als Wille und Vorstellung II von
1844 korreliert bereits Schopenhauer „Musik" und „Seele", wenn er den Primat
der Musik bei den gattungsüberschreitenden Synthesen von Poesie und Musik
in Lied oder Oper damit begründet, dass „die Tonkunst" die „innerste Seele"
von verbal vermittelter Empfindung oder szenisch präsentierter Handlung zu-
gänglich mache, „deren bloße Hülle und Leib die Bühne darbietet" (WWV II,
Kap. 39, Hü 513). Vgl. dazu auch das ausführlichere Schopenhauer-Zitat in
NK 486, 20-21. Laut Schopenhauer hat das singuläre Potential der Musik weit-
reichende Konsequenzen für deren Vermittlung mit der Poesie: „So gewiß die
Musik, weit entfernt eine bloße Nachhülfe der Poesie zu seyn, eine selbststän-
dige Kunst, ja die mächtigste unter allen ist und daher ihre Zwecke ganz aus
eigenen Mitteln erreicht; so gewiß bedarf sie nicht der Worte des Gesanges,
oder der Handlung einer Oper" (WWV II, Kap. 39, Hü 513). Zuvor erklärt Scho-
penhauer bereits in der Welt als Wille und Vorstellung I von 1819, die Musik
zeichne sich dadurch aus, dass sie nicht bloß Ideen, sondern den Willen selbst
abbilde und eine viel höhere Wirkungsintensität erziele als die übrigen Künste
(WWV I, § 52, Hü 304). Vgl. auch NK 457, 31 - 458, 2.
489, 2-3 als ob seine Sinne auf ein Mal vergeistigter und sein Geist versinnlich-
ter geworden wäre] Auf eine solche Synthese zielen auch die theoretischen
Schriften Wagners: Hier verleiht er seinen künstlerischen Intentionen einen
programmatischen Ausdruck, indem er Geist und Sinnlichkeit zu integrieren
versucht. Schon Kant reflektierte in seiner transzendentalphilosophischen Er-
kenntnistheorie die Problematik einer Vermittlung zwischen diesen beiden
Sphären. In seiner Kritik der reinen Vernunft konstatiert Kant: „Gedanken ohne
Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so
nothwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in
der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu
machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen)" (AA 3, 75). Auch für Kants Kritik
der Urteilskraft ist die Suche nach Syntheseprinzipien von konstitutiver Bedeu-
tung: Schon in der Einleitung differenziert Kant zwischen dem Verstand und
der Vernunft sowie zwischen theoretischer und praktischer Philosophie als Na-
tur- und Moralphilosophie; zugleich schreibt er der Urteilskraft hier eine Ver-
mittlungsfunktion zu (AA 5, 168, 171, 174, 176).
 
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