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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0600
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Stellenkommentar UB IV WB 11, KSA 1, S. 508 573

N. orientiert sich an Wagners freier und heroischer Siegfried-Figur, wenn
er in UB IV WB sein Ideal eines autonomen Menschen der Zukunft entwirft
(vgl. dazu NK 436, 28-31). In Der Fall Wagner interpretiert N. die Siegfried-Figur
später aus der Perspektive von Wagners ursprünglicher Revolutionsbegeiste-
rung: „Wagner hat, sein halbes Leben lang, an die Revolution geglaubt, wie
nur irgend ein Franzose an sie geglaubt hat. Er [...] glaubte in Siegfried den
typischen Revolutionär zu finden. - ,Woher stammt alles Unheil in der Welt?'
fragte sich Wagner. Von ,alten Verträgen': antwortete er, gleich allen Revoluti-
ons-Ideologen. Auf deutsch: von Sitten, Gesetzen, Moralen, Institutionen, von
Alledem, worauf die alte Welt, die alte Gesellschaft ruht. ,Wie schafft man das
Unheil aus der Welt? Wie schafft man die alte Gesellschaft ab?' Nur dadurch,
dass man den ,Verträgen' (dem Herkommen, der Moral) den Krieg erklärt. Das
thut Siegfried. Er beginnt früh damit, sehr früh: seine Entstehung ist be-
reits eine Kriegserklärung an die Moral - er kommt aus Ehebruch, aus Blut-
schande zur Welt ... Nicht die Sage, sondern Wagner ist der Erfinder dieses
radikalen Zugs; an diesem Punkte hat er die Sage corrigirt ... Siegfried fährt
fort, wie er begonnen hat: [...] er wirft alles Ueberlieferte, alle Ehrfurcht, alle
Furcht über den Haufen [...]" (KSA 6, 19, 27 - 20, 12). Zur Thematik der Revo-
lution sowie zu den revolutionären Aktivitäten Wagners und deren Folgen für
sein Kunstkonzept vgl. auch NK 448, 4-10; 451, 14-18; 475, 10-11; 476, 8-9;
504, 18-21; 504, 27-30.
508, 33 - 509, 5 Im Anblicke seines herrlichen Werdens und Aufblühens weicht
der Ekel aus der Seele Wotan's, er geht dem Geschicke des Helden mit dem Auge
der väterlichsten Liebe und Angst nach. Wie er das Schwert sich schmiedet, den
Drachen tödtet, den Ring gewinnt, dem listigsten Truge entgeht, Brünnhilde er-
weckt, wie der Fluch, der auf dem Ringe ruht, auch ihn nicht verschont] Im vorlie-
genden Kontext referiert N. wichtige Handlungssequenzen aus den Opern Sieg-
fried und Götterdämmerung, die den dritten und vierten Teil von Wagners
Tetralogie Der Ring des Nibelungen bilden: In der Siegfried-Oper, in der auch
Wotan als maskierter Wanderer auftritt, gelingt es Siegfried in Mimes Schmie-
de, das im 2. Akt der Walküre von Wotans Speer zerschlagene Schwert seines
Vaters Siegmund neu zu schmieden, mit dem er später den Drachen töten will.
Nach dieser Tat kann er sich in den Besitz von Tarnkappe und Ring setzen, den
beiden für die weitere Handlung relevanten Produkten aus dem Rheingold, das
der Zwerg Alberich in der Oper Rheingold den Rheintöchtern weggenommen
hatte. Mit „dem listigsten Truge" (509, 4) ist der Gifttrank gemeint, mit dem
Mime Siegfried töten will, um sich selbst den Goldhort anzueignen. Siegfried
durchschaut diese Strategie, weil er durch die Berührung mit dem Drachenblut
die Fähigkeit erlangt hat, die wahre Gesinnung eines Menschen zu erkennen.
 
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