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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0025
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10 Morgenröthe

Menschliches, Allzumenschliches zurückgriff, so auf das Thema des „Freigeists"
und der „Moral". Auch orientierte er sich wiederum an den Methoden der fran-
zösischen Moralistik, insbesondere an La Rochefoucauld (vgl. NL 1876, 18[21],
KSA 8, 319; NL 1876/77, 23[152], KSA 8, 459-460) und an den ebenfalls aphoris-
tischen „Moral"-Analysen seines Freundes Paul Ree. In einer Gesamtdispositi-
on vom Herbst 1877 plante N. in enger Anlehnung an Ree ein Kapitel „Zur
Geschichte der moralischen Empfindungen" (NL 1877, KSA 8, 25[3], 485). Den
ursprünglich statt „Morgenröthe" erwogenen Titel „Die Pflugschar" findet man
schon viel früher. Bereits im Sommer 1876, unmittelbar nach Abschluss von
UB IV: Richard Wagner in Bayreuth und zu Beginn der sich über mehrere Jahre
erstreckenden Arbeit an Menschliches, Allzumenschliches, notierte N. den Titel
„Die Pflugschar" mit dem Untertitel „Eine Anleitung zur geistigen Befreiung"
(17[105], KSA 8, 313). Darauf folgt eine Liste von sieben „Hauptstücken" (Kapi-
teln) zu Themenbereichen, die er zu traktieren gedachte. Die Schrift, für die er
dies alles disponierte, erhielt dann zwar doch den Titel „Menschliches, Allzu-
menschliches", aber der zunächst vorgesehene Titel „Die Pflugschar" sollte
noch fünf Jahre später auf die folgende Aphorismensammlung übergehen, be-
vor N. für diese schließlich einen anderen Titel wählte: „Morgenröthe".
N.s Reflexionen zur Form beginnen ebenfalls in den im Nachlass erhalte-
nen Aufzeichnungen zu Menschliches, Allzumenschliches und gelten nicht min-
der für die Morgenröthe. Bemerkenswerterweise ist in diesen Aufzeichnungen
nicht von Aphorismen, sondern von Sentenzen oder Maximen die Rede. An-
schließend an Paul Rees Psychologische Beobachtungen (1875), die mit der Fest-
stellung beginnen: „Sentenzen sind Gedankenextract, den sich jeder nach sei-
nem Geschmack verlängern kann", äußerte sich N. in einem der nachgelas-
senen Notate (NL 1876/77, 20[3], KSA 8, 361) zu seiner Tendenz, über die
aphoristisch markante Begrenzung der Sentenz hinaus weiter auszugreifen:
„Eine Sentenz ist ein Glied aus einer Gedankenkette; sie verlangt, dass der
Leser diese Kette aus eigenen Mitteln wiederherstelle: diess heisst sehr viel
verlangen. Eine Sentenz ist eine Anmaassung. - Oder sie ist eine Vorsicht: wie
Heraclit wusste. Eine Sentenz muss, um geniessbar zu sein, erst aufgerührt
und mit anderem Stoff (Beispiel, Erfahrungen, Geschichten) versetzt werden.
Das verstehen die Meisten nicht und desshalb darf man Bedenkliches unbe-
denklich in Sentenzen aussprechen."
Wird schon hier deutlich, wie sehr N. seine eigene Überschreitung der von
Aphorismus und Sentenz traditionell geforderten geschliffenen „brevitas" zu
rechtfertigen sucht, so verrät eine aus der gleichen Zeit stammende Reflexion
die Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte: „Wer in der deutschen
Sprache Sentenzen bildet, hat die Schwierigkeit, daß sie gerade am Ende nicht
scharf und streng abgeschliffen werden können, sondern daß Hülfszeitwörter
 
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