Überblickskommentar 11
hinterdrein stürzen wie Schutt und Gerümpel einem rollenden Steine. - Selbst
der feinste Kopf ist nicht vermögend die Kunst der Sentenzen-Schleiferei ge-
bührend zu würdigen, wenn er nicht auf diesem Gebiete selber gewetteifert
hat." (NL 1876/77, 23[132], KSA 8, 450)
Quellen
In der Morgenröthe verstärkt N. die schon in Menschliches, Allzumenschliches
eingeleitete Wendung von der romantisch-idealistischen und ,metaphysisch'
orientierten Weltanschauung des Frühwerks hin zu einem aufklärerisch histo-
risierenden und psychologisierenden Denken. Auch physiologische Erklä-
rungsmuster, die sich schon früher durch die Schopenhauer-Adaptation ange-
kündigt hatten, greifen nun noch tiefer ein, nicht zuletzt aufgrund eigener
schwerer Leidenserfahrungen. Besonders interessierte sich N. für Schriften, die
diesen Tendenzen entsprechen. Sein Verfahren ist subversiv und kritisch. Er
entledigt sich der religiösen und ,moralischen' Wertungen, analysiert deren
mentale und emotionale Voraussetzungen und löst sich damit von seinen eige-
nen früheren Fixierungen. Ausdruck dieser „Loslösung" - er selbst wählte die-
se Bezeichnung -, die er als Befreiungsakt verstand, ist die programmatische
Vorstellung des „Freigeists". Sie hatte eine zeitgenössische Konjunktur, der
sich N. anschloss (vgl. den Kommentar S. 109 f.). Schon der Untertitel der Mor-
genröthe - Gedanken über die moralischen Vorurtheile - macht die von einer
langen Vorgeschichte in der europäischen Aufklärung her bekannte Vorurteils-
kritik zum Thema (vgl. den Kommentar S. 19-22). Sie bestimmt weitgehend das
kritisch-freigeisterische Verfahren. Ihr Pendant findet sie in einer Hinwendung
zur Wirklichkeit' und zu empirischen Methoden der Wirklichkeitsanalyse bis
hin zu experimentellen Konzepten. Auch damit war N. durchaus „zeitgemäß",
denn dies entsprach der Grundströmung des Realismus und Naturalismus in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch einem zunehmend materialisti-
schen und szientistischen Daseinsverständnis, das in zahlreichen, meist popu-
lärwissenschaftlichen Darstellungen oder in modischer Weltanschauungslite-
ratur' zum Ausdruck kam. Auf solche sekundären Werke griff N. oft zurück;
die originalen Schriften, etwa diejenigen Darwins, zog er wenn überhaupt nur
selten heran.
Die mit Abstand wichtigste, ja die entscheidende Quelle, weil sie die moral-
kritische Grunddisposition der Morgenröthe bestimmt und sogar ihre zentralen
thematischen Bereiche schon erschließt, war Paul Ree, der Freund, mit dem N.
während seiner aufklärerischen ,mittleren' Periode immer wieder Gemein-
schaft hatte. Mit ihm pflegte er intensiven geistigen Austausch und seine
Schriften absorbierte er bis hin zur Übernahme von Kapitelüberschriften und
hinterdrein stürzen wie Schutt und Gerümpel einem rollenden Steine. - Selbst
der feinste Kopf ist nicht vermögend die Kunst der Sentenzen-Schleiferei ge-
bührend zu würdigen, wenn er nicht auf diesem Gebiete selber gewetteifert
hat." (NL 1876/77, 23[132], KSA 8, 450)
Quellen
In der Morgenröthe verstärkt N. die schon in Menschliches, Allzumenschliches
eingeleitete Wendung von der romantisch-idealistischen und ,metaphysisch'
orientierten Weltanschauung des Frühwerks hin zu einem aufklärerisch histo-
risierenden und psychologisierenden Denken. Auch physiologische Erklä-
rungsmuster, die sich schon früher durch die Schopenhauer-Adaptation ange-
kündigt hatten, greifen nun noch tiefer ein, nicht zuletzt aufgrund eigener
schwerer Leidenserfahrungen. Besonders interessierte sich N. für Schriften, die
diesen Tendenzen entsprechen. Sein Verfahren ist subversiv und kritisch. Er
entledigt sich der religiösen und ,moralischen' Wertungen, analysiert deren
mentale und emotionale Voraussetzungen und löst sich damit von seinen eige-
nen früheren Fixierungen. Ausdruck dieser „Loslösung" - er selbst wählte die-
se Bezeichnung -, die er als Befreiungsakt verstand, ist die programmatische
Vorstellung des „Freigeists". Sie hatte eine zeitgenössische Konjunktur, der
sich N. anschloss (vgl. den Kommentar S. 109 f.). Schon der Untertitel der Mor-
genröthe - Gedanken über die moralischen Vorurtheile - macht die von einer
langen Vorgeschichte in der europäischen Aufklärung her bekannte Vorurteils-
kritik zum Thema (vgl. den Kommentar S. 19-22). Sie bestimmt weitgehend das
kritisch-freigeisterische Verfahren. Ihr Pendant findet sie in einer Hinwendung
zur Wirklichkeit' und zu empirischen Methoden der Wirklichkeitsanalyse bis
hin zu experimentellen Konzepten. Auch damit war N. durchaus „zeitgemäß",
denn dies entsprach der Grundströmung des Realismus und Naturalismus in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch einem zunehmend materialisti-
schen und szientistischen Daseinsverständnis, das in zahlreichen, meist popu-
lärwissenschaftlichen Darstellungen oder in modischer Weltanschauungslite-
ratur' zum Ausdruck kam. Auf solche sekundären Werke griff N. oft zurück;
die originalen Schriften, etwa diejenigen Darwins, zog er wenn überhaupt nur
selten heran.
Die mit Abstand wichtigste, ja die entscheidende Quelle, weil sie die moral-
kritische Grunddisposition der Morgenröthe bestimmt und sogar ihre zentralen
thematischen Bereiche schon erschließt, war Paul Ree, der Freund, mit dem N.
während seiner aufklärerischen ,mittleren' Periode immer wieder Gemein-
schaft hatte. Mit ihm pflegte er intensiven geistigen Austausch und seine
Schriften absorbierte er bis hin zur Übernahme von Kapitelüberschriften und