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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0027
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12 Morgenröthe

wörtlichen Formulierungen schon in Menschliches, Allzumenschliches. Rees
Erstlingswerk Psychologische Beobachtungen (1875), eine Sammlung von Apho-
rismen, waren N.s Vorbild für seine eigene Hinwendung zum aphoristischen
Genre und auch zur französischen Moralistik. 1877 erschien Rees Schrift Der
Ursprung der moralischen Empfindungen, die - wie einige Jahre später N.s Mor-
genröthe - schon im Titel die genealogische Methode ankündigte, der N. noch
bis hin zu seiner späten Abhandlung Zur Genealogie der Moral als Grundmuster
seiner eigenen moralkritischen Methode folgte. Sogar der Ausgangs- und An-
gelpunkt dieser Moralkritik, die genealogische Subversion der moralischen
Werturteile „gut und böse", die N. in der Morgenröthe adaptierte und später in
der Titelformulierung seiner Abhandlung Jenseits von Gut und Böse aufnahm,
war der Ausgangspunkt Paul Rees: Der erste Paragraph seiner Abhandlung
über den Ursprung der moralischen Empfindungen trägt die Überschrift „Der
Ursprung der Begriffe gut und böse". Bereits im Vorfeld von N.s Arbeit an der
Morgenröthe konzipierte Ree sein erst 1885 erscheinendes Hauptwerk Die Ent-
stehung des Gewissens, und N. griff diese Konzeption auf - sie faszinierte ihn,
wie wir aus einem seiner Briefe wissen. Bereits am 19. Oktober 1879 hatte ihm
Ree mitgeteilt: „Die Arbeit ist im Rohbau fertig" (KGB II 6/2, Nr. 1244, S. 1195,
Z. 33).
Auf weiten Strecken entspricht sowohl N.s moralkritisches Spektrum wie
auch seine Methode Rees Darlegungen. Zuerst behandelt dieser nach einem
in der einschlägigen zeitgenössischen Populärwissenschaft gängigen und im
Grundsätzlichen bis auf die Aufklärung zurückgehenden Muster die Ablösung
übernatürlicher Erklärungen durch natürliche Erklärungen, dann traktiert er
historisierend das Gewissen als ein „Produkt der Geschichte", um schließlich
auf den historischen Ursprung moralischer Gebote und Verbote und in diesem
Zusammenhang auf die christliche Ethik überzugehen (ohne die antichristliche
Polemik, die N. von der radikalen Freidenker-Bewegung übernimmt). Im letz-
ten Kapitel seines Buchs wechselt Ree von der historisch-genealogischen zur
psychologischen Analyse, die ebenso wie die historische bei N. von maßgebli-
cher Bedeutung ist. Sogar einzelne Hauptelemente, die in N.s Darstellung er-
scheinen, hat Ree aus historischer sowie aus psychologischer Sicht moralkri-
tisch analysiert, so die Entstehung der Strafe nach ursprünglich auf Rache und
Vergeltung zielenden Bräuchen, die Entstehung kategorischer Imperative und
moralischer Urteile. Der für N. zentralen Auseinandersetzung mit Schopenhau-
ers Begründung der Moral auf das Mitleid widmet Ree ebenfalls einen Ab-
schnitt, er erörtert das für N. auffallend interessante Phänomen der Grausam-
keit, die Bewertung des „Egoismus", die ,moralische' Dimension von Lob und
Tadel sowie der „Eitelkeit". Nicht zuletzt führt N. wie Ree und seine Vorgänger
auf diesem Gebiet - u. a. Montaigne und Pascal - die ,moralischen' Gefühle,
 
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