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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0028
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Überblickskommentar 13

Wertungen und Urteile auf Gewohnheiten: auf Sitten zurück. Dem damals in
der florierenden ethnologischen Literatur üblichen Verfahren entsprechend
zieht Ree wie auch N. zahlreiche Berichte von Sitten und Bräuchen noch in
„primitiven" Kulturen lebender ,Wilder' heran, um die ursprünglich nicht in
unserem Sinn ,moralischen' Verhaltensweisen und Wertungen in eine teils re-
lativierende, teils ,genealogisch' perspektivierende Betrachtung einzubezie-
hen. Mit Darwins Naturstudien, die alle herkömmliche Teleologie erledigten,
weil sie die Evolution auf „natürliche Auslese" begründeten, hatte sich Ree
schon in den Siebziger Jahren beschäftigt. Sie hinterließ in seinem Werk tiefe
Spuren wie bei vielen Zeitgenossen und so auch bei N. - sowohl in Zustim-
mung wie in Auseinandersetzung.
N., der immer die Originalität seiner Gedanken behaupten wollte und seine
Quellen verschwieg, befürchtete - noch bis ins Vorwort von Ecce homo hi-
nein - „verwechselt" zu werden, und dies besonders im Hinblick auf Paul Ree.
Nachdem er von Ree sowohl für Menschliches, Allzumenschliches wie für die
Morgenröthe entscheidende Anregungen erhalten hatte, wollte er diesen Zu-
sammenhang - wohl auch wegen des Zerwürfnisses aufgrund der Lou-Affäre -
nicht öffentlich dokumentiert wissen. An den Freund Franz Overbeck schrieb
er am 6. März 1883: „Eine andere ,Befreiung' will ich Dir nur andeuten: ich
habe es abgelehnt, daß Ree's Hauptbuch ,Geschichte des Gewissens' mir
gewidmet wird - und damit einem Verkehre ein Ende gesetzt, aus dem manche
unheilvolle Verwechslung entstanden ist. - " (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 386). Man
hatte bei ihm zu viel „Reealismus" bemerkt! In einem von einer Intrige seiner
Schwester beeinflussten Brief schrieb N. an Malwida von Meysenbug von Mitte
Juli 1883: „Man soll sein Ideal vom Menschen durchsetzen, man soll mit
seinem Ideale seine Mitmenschen wie sich selber zwingen und überwältigen:
und also schöpferisch wirken! Dazu aber gehört [...] daß man, was unserm
Ideale zuwider geht (wie z. B. solches Gesindel wie L<ou> und R<ee>) auch als
Feinde behandelt" (KSB 6/KGB III/1, Nr. 437) - und dies, obwohl er in einem
Brief an Heinrich Köselitz vom 21. April 1883 gestand: „Ree ist immer gegen
mich von einer rührenden Bescheidenheit gewesen, dies will ich Ihnen aus-
drücklich bekennen" (KSB 6/KGB III/1, Nr. 405). Ree, in bemerkenswertem
Kontrast zu seinen immoralistischen Theorien ein Charakter von reiner Güte
und Hilfsbereitschaft, auch gegenüber N., dem fünf Jahre älteren und ihn do-
minierenden Freund, starb 1901, nachdem er 10 Jahre lang gratis als Armenarzt
gewirkt hatte. Vgl. Ernst Pfeiffer (Hg.): Friedrich Nietzsche, Paul Ree, Lou von
Salome. Die Dokumente ihrer Begegnung (1970); Samuel Danzig: Drei Genealo-
gien der Moral. Bernard de Mandeville, Paul Ree und Friedrich Nietzsche (1904);
Charlotte Morawski: Der Einfluß Rees auf Nietzsches neue Moralideen (1915);
Hubert Treiber: Zur Genealogie einer „science positive de la morale en Allemag-
 
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