Überblickskommentar 19
247, 5). In einem nachgelassenen Notat vom Sommer 1885 gab N. folgende, sein
eigenes Verfahren kennzeichnende Definition: „Ein Moralist ist das Gegenstück
eines Moral-Predigers: nämlich ein Denker, welcher die Moral als fragwürdig,
fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt. Ich bedaure, hinzufügen zu müs-
sen, daß der Moralist, eben deshalb, selber zu den fragwürdigen Wesen ge-
hört" (KSA 11, 35[1], 509, 1-5). In N.s eigenem biographischem Horizont zeich-
net sich seit Menschliches, Allzumenschliches immer wieder die Strategie ei-
ner - wie er dies selbst nannte - „großen Loslösung" von allen früheren
Bindungen und Autoritäten ab. Aus der Konvergenz von Zeitgenossenschaft
und eigener Betroffenheit resultiert die Intensität seiner Analysen. Die „Mor-
genröthe", so hoffte N., sollte nicht zuletzt für ihn selbst einen neuen Tag an-
kündigen, um dessentwillen er das Dunkel der „Vorurtheile" durchdringen
musste. Skeptisch zurückblickend notierte er allerdings im Herbst 1881: „Die
Morgenröthe hat geleuchtet - aber wo ist die Sonne?" (KSA 9, 12[162], 604).
Schon die Aufklärung des 18. Jahrhunderts wollte, wie ja auch ihr deut-
scher Name sagt, und wie noch deutlicher ihre französischen und englischen
Bezeichnungen signalisieren, Licht bringen, während in der christlichen Tradi-
tion Luzifer, der ,Lichtbringer', die Ursünde der superbia und insofern das
Prinzip des Bösen verkörpert. Sogar die schon in älteren Traditionen vorgege-
bene Metapher der „Morgenröthe" erscheint in einem der radikalsten Texte
der französischen Aufklärung: „Malgre l'obscurite du crepuscule oü les nations
semblent encore errer, des coups frequents de lumiere annoncent l'aurore et
la venue du grand jour" („Trotz des Halbdunkels, in dem die Nationen noch
tappen, verkünden zahlreiche durchbrechende Lichtstrahlen die Morgenröte
und das Kommen des vollen Tages"). Dieses Zitat stammt aus dem Essai sur
les prejuges (,Essai über die Vorurteile') eines wegen seiner revolutionären Ra-
dikalität anonym gebliebenen Verfassers (wahrscheinlich Holbach oder Du
Marsais). Es war die Aufklärung, welche gerade die Vorurteile, die N. im Unter-
titel seines Werks exponiert, zu einem ihrer großen Themen machte.
Bereits Francis Bacon hatte mit der Entlarvung der Idole in seinem Novum
Organum von 1620 eine von N. wahrgenommene und noch in Ecce homo (KSA
6, 287, 15-24) markierte Ausgangsposition geschaffen. Dem Begriff des Vorur-
teils entspricht bei Bacon die nicht aus der Erfahrung der Natur gewonnene
Erklärung, sondern eine selbstgemachte Vorstellung; sein Terminus ist: antici-
patio mentis. Dieses Vor-Urteil beruht zum einen auf vorgefassten Begriffen,
wie sie vor allem in der lange Zeit herrschenden aristotelisch-scholastischen
Tradition etabliert waren, zum anderen auf zu geringer Erfahrung: „Die Idole
und falschen Begriffe belagern den menschlichen Geist und nehmen denselben
so sehr gefangen, daß sie ihm nicht allein den Eingang der Wahrheit erschwe-
ren, sondern auch den wahrheitsoffenen Geist immer wieder hemmen, wenn
247, 5). In einem nachgelassenen Notat vom Sommer 1885 gab N. folgende, sein
eigenes Verfahren kennzeichnende Definition: „Ein Moralist ist das Gegenstück
eines Moral-Predigers: nämlich ein Denker, welcher die Moral als fragwürdig,
fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt. Ich bedaure, hinzufügen zu müs-
sen, daß der Moralist, eben deshalb, selber zu den fragwürdigen Wesen ge-
hört" (KSA 11, 35[1], 509, 1-5). In N.s eigenem biographischem Horizont zeich-
net sich seit Menschliches, Allzumenschliches immer wieder die Strategie ei-
ner - wie er dies selbst nannte - „großen Loslösung" von allen früheren
Bindungen und Autoritäten ab. Aus der Konvergenz von Zeitgenossenschaft
und eigener Betroffenheit resultiert die Intensität seiner Analysen. Die „Mor-
genröthe", so hoffte N., sollte nicht zuletzt für ihn selbst einen neuen Tag an-
kündigen, um dessentwillen er das Dunkel der „Vorurtheile" durchdringen
musste. Skeptisch zurückblickend notierte er allerdings im Herbst 1881: „Die
Morgenröthe hat geleuchtet - aber wo ist die Sonne?" (KSA 9, 12[162], 604).
Schon die Aufklärung des 18. Jahrhunderts wollte, wie ja auch ihr deut-
scher Name sagt, und wie noch deutlicher ihre französischen und englischen
Bezeichnungen signalisieren, Licht bringen, während in der christlichen Tradi-
tion Luzifer, der ,Lichtbringer', die Ursünde der superbia und insofern das
Prinzip des Bösen verkörpert. Sogar die schon in älteren Traditionen vorgege-
bene Metapher der „Morgenröthe" erscheint in einem der radikalsten Texte
der französischen Aufklärung: „Malgre l'obscurite du crepuscule oü les nations
semblent encore errer, des coups frequents de lumiere annoncent l'aurore et
la venue du grand jour" („Trotz des Halbdunkels, in dem die Nationen noch
tappen, verkünden zahlreiche durchbrechende Lichtstrahlen die Morgenröte
und das Kommen des vollen Tages"). Dieses Zitat stammt aus dem Essai sur
les prejuges (,Essai über die Vorurteile') eines wegen seiner revolutionären Ra-
dikalität anonym gebliebenen Verfassers (wahrscheinlich Holbach oder Du
Marsais). Es war die Aufklärung, welche gerade die Vorurteile, die N. im Unter-
titel seines Werks exponiert, zu einem ihrer großen Themen machte.
Bereits Francis Bacon hatte mit der Entlarvung der Idole in seinem Novum
Organum von 1620 eine von N. wahrgenommene und noch in Ecce homo (KSA
6, 287, 15-24) markierte Ausgangsposition geschaffen. Dem Begriff des Vorur-
teils entspricht bei Bacon die nicht aus der Erfahrung der Natur gewonnene
Erklärung, sondern eine selbstgemachte Vorstellung; sein Terminus ist: antici-
patio mentis. Dieses Vor-Urteil beruht zum einen auf vorgefassten Begriffen,
wie sie vor allem in der lange Zeit herrschenden aristotelisch-scholastischen
Tradition etabliert waren, zum anderen auf zu geringer Erfahrung: „Die Idole
und falschen Begriffe belagern den menschlichen Geist und nehmen denselben
so sehr gefangen, daß sie ihm nicht allein den Eingang der Wahrheit erschwe-
ren, sondern auch den wahrheitsoffenen Geist immer wieder hemmen, wenn