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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0035
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20 Morgenröthe

wir uns nicht warnen lassen und mit allem Ernst gegen diese Vorurtheile rüs-
ten" (Novum Organum I, 38; Übersetzung von Kuno Fischer). Anders als kurz
darauf Descartes, der die Autonomie des - durch den methodischen Zweifel
gereinigten - Verstandes betont, besteht Bacon auf der von der Naturbeobach-
tung ausgehenden Erfahrung, von der sich der Verstand immer abhängig weiß.
Die Idole entstehen teils aus der allgemein-menschlichen Natur, aus unserem
„Stamm" (idola tribus), teils aus der höhlenartigen Eingeschlossenheit des In-
dividuums in seinen gesellschaftlich bedingten Vorurteilen: aus Konventionen
und öffentlichen Meinungen (idola fori), teils aus bloßen Phantasie-Ausgebur-
ten (idola theatri). Sie alle müssen laut Bacon durch Kritik bekämpft werden,
damit die auf Erfahrung und Experiment basierende Wissenschaft Fortschritte
in eine bessere, nicht zuletzt auf den Nutzen für die Menschheit ausgerichtete
Zukunft erzielen kann.
Zur Genese der Vorurteilstheorie trug sodann Descartes mit seinen Medita-
tiones de prima philosophia (1641) und den Principia philosophiae (1644) bei: Er
begreift den methodischen Zweifel als ein Mittel zur Befreiung von Vorurteilen
(praejudicia). Im ersten Teil seiner Principia philosophiae, wo er ,Über die Prin-
zipien der menschlichen Erkenntnis' schreibt, erklärt Descartes:
„Um ernstlich zu philosophieren und die Wahrheit aller erkennbaren Din-
ge aufzusuchen, müssen deshalb zunächst alle Vorurteile abgelegt werden,
d. h. man muß sich vorsehen und den früher einmal angenommenen Ansichten
nicht vertrauen, bevor sie nicht einer neuen Prüfung unterworfen und als wahr
erkannt worden sind. Dann ist der Reihe nach auf die Begriffe zu achten, die
wir selbst in uns haben, und nur die, welche bei solcher Prüfung als klare und
deutliche erkannt werden, aber auch diese sämtlich, sind für wahr zu halten."
(Descartes 1965, 29; Descartes' lateinischer Wortlaut: „Itaque ad serio philoso-
phandum, veritatemque omnium rerum cognoscibilium indagandam: primo,
omnia praejudicia sunt deponenda, sive accurate est cavendum, ne ullis ex
opinionibus olim a nobis receptis fidem habeamus, nisi prius, iis ad novum
examen revocatis, veras esse comperiamus. Deinde, ordine est attendendum
ad notiones, quas ipsimet in nobis habemus, eaeque omnes et solae, quas sic
attendendo clare ac distincte cognoscemus, judicandae sunt verae.")
Schon in seinem ersten philosophischen Hauptwerk Discours de la metho-
de pour bien conduire sa raison et chercher la verite dans les sciences (1637)
stellt Descartes den mit der Kritik von Vorurteilen verbundenen Grundsatz auf:
„Das Erste ist: niemals eine Sache als wahr anzunehmen, die ich nicht ein-
leuchtend als so beschaffen erkennen würde; das heißt sorgfältig die Überei-
lung und das Vorurteil zu vermeiden und in meinen Urteilen nicht mehr zu
begreifen als was ich meinem Geist so klar und so deutlich darstellen würde,
daß ich gar keine Möglichkeit hätte, es in Zweifel zu ziehen" („Le premier etoit
 
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