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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0036
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Überblickskommentar 21

de ne recevoir jamais aucune chose pour vraie que je ne la connusse evidem-
ment etre teile; c'est ä dire, d'eviter soigneusement la precipitation et la pre-
vention, et de ne comprendre rien de plus en mes jugements que qui se presen-
toira si clairement et si distinctement ä mon esprit, que je n'eusse aucune occa-
sion de la mettre en doute."; Descartes 1824, Bd. 1, 141) In Deutschland
begründete Christian Thomasius als Leitfigur der Frühaufklärung mit seiner
Schrift De Praejudiciis oder von den Vorurtheilen (1689) die sich dann über das
ganze 18. Jahrhundert ausbreitende Vorurteilskritik. Zu den aus der Fülle der
Publikationen herausragenden Werken gehört eine umfangreiche Schrift des
in der Tradition der Wolff-Schule stehenden Aufklärungsphilosophen Georg
Friedrich Meier: Beiträge zur Lehre von den Vorurteilen des menschlichen Ge-
schlechts (1766). Wie dieser Titel erkennen lässt, gab es inzwischen eine regel-
rechte Lehre von den Vorurteilen. Sie führte zur Differenzierung in verschiede-
ne Vorurteilsarten, später aber auch zu einer Einsicht in die Unvermeidbarkeit
von Vorurteilen und, nach der Kritik der Vorurteile, schließlich sogar zu einer
Kritik der Vorurteilskritik aufgrund der conditio humana. Schon Pierre Gassen-
di hatte gegen Descartes eingewandt, er selbst sei durch den methodischen
Zweifel in ein neues Vorurteil gefallen, nämlich in dasjenige, alles für falsch
zu halten (hierzu umfassend: Schneiders 1983). Wie wichtig für N. auch noch
über die Morgenröthe hinaus die Leitvorstellung des „Vorurteils" war, zeigt die
Formulierung im Untertitel des ,,[e]rsten Hauptstücks" von Jenseits von Gut und
Böse: „Von den Vorurtheilen der Philosophen" (KSA 5, 15, 2).
Eine neue Konjunktur hatte die Vorurteilskritik gerade in den Jahren, in
denen N. Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und Die fröhliche Wis-
senschaft verfasste. Im Namen der „empirischen Wissenschaften" und der
„Thatsachen" forderte Ludwig Büchner im Vorwort zu seinem schon genannten
internationalen Bestseller Kraft und Stoff, man solle die „unvermeidlichen Con-
sequenzen einer vorurteilslosen, empirisch-philosophischen Naturbetrach-
tung" nicht scheuen (Büchner 1876, XIV); zum umfassenden Kampf gegen vor-
urteilshaftes Denken müsse man „mit Entschiedenheit jede Art von Supranatu-
ralismus oder Idealismus aus der Erklärung des natürlichen Geschehens
verbannen" (Büchner 1876, XV). Und er fährt fort: „,Natur und Erfahrung' ist
das Losungswort der Zeit" (Büchner 1876, XVI).
Die Differenzierung und formale Systematisierung, wie sie die aufkläre-
rische Lehre von den Vorurteilen vollzog, lag N. schon aufgrund der apho-
ristischen Konzeption seiner Schrift fern. Fern lag ihm vor allem, trotz grund-
sätzlicher Übereinstimmung mit der aufklärerischen Vorurteilskritik, deren
substantielle Ausrichtung auf Moral und Vernunft. Erst recht war ihm das Hu-
manitätsideal der Aufklärung fremd: die Vorstellung von Menschenrechten
und der Toleranzgedanke, den schon John Locke und dann Voltaire in seinem
 
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