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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0038
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Überblickskommentar 23

nen. Insbesondere gilt dies für die Hauptformen der antimetaphysischen, in
einem grundsätzlichen Sinn ,anthropologischen' Reduktion von Moral: für die
physiologische, psychologische, soziologische und pragmatische (utilitaristi-
sche) Begründung von Moral. Die damit verbundene Kritik an der traditionel-
len religiösen Verankerung der Moral wie an der Religion überhaupt führte zu
einer neuen Konjunktur der schon von der Aufklärung her bekannten Vorstel-
lung vom „Freidenker" und „Freigeist" (vgl. NK M 20). N. selbst verstand sich
von Menschliches, Allzumenschliches über die Morgenröthe bis zur Fröhlichen
Wissenschaft programmatisch als „Freigeist". In Menschliches, Allzumenschli-
ches (MA 225) gibt er folgende Definition des Freigeists: „Freigeist ein re-
lativer Begriff. - Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt,
als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und
Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. Er ist die Aus-
nahme, die gebundenen Geister sind die Regel" (KSA 2, 189, 12-15).
In dem Maße, wie sich die Aufklärung durch die großen Fortschritte in
den Naturwissenschaften, in der Medizin und Biologie (Darwin) vertiefte und
radikalisierte, gewann auch der „Freigeist" ein schärferes Profil. Überdies wur-
de aus dem Freidenkertum geradezu eine Mode-Erscheinung. Im gleichen Jahr
1880, in dem N. an der Morgenröthe zu arbeiten begann, wurde der internatio-
nale Freidenker-Bund' gegründet, 1881 dessen deutsche Sektion. Später, in Jen-
seits von Gut und Böse („zweites Hauptstück: der freie Geist", JGB 44) und in
Ecce homo versuchte N., für sich eine „ganz neue Art Freigeisterei" in An-
spruch zu nehmen und alles bisherige und auch zeitgenössische Freigeister-
tum zu disqualifizieren (hierzu: KSA 6, 319, 6-17). So sehr N. aber darauf be-
dacht war, sich von anderen abzugrenzen, um sich selbst als originalen Den-
ker, als Vordenker einer künftigen Menschheit und daher in seiner Gegenwart
als noch „unzeitgemäßen" Denker zu inszenieren, so ,zeitgemäß' war er doch.
Das aktuelle Interesse spiegelt sich schon in den von ihm herangezogenen
Werken der Zeitgenossen, reicht aber weit über das unmittelbar Greifbare hi-
naus in aufschlussreiche Kontexte. In der 1886 verfassten „Vorrede" zur Neu-
Ausgabe von Menschliches, Allzumenschliches behauptet N., einst habe er die
Vorstellung von freien Geistern, die es eigentlich nie gegeben habe, nur zu
seinem ganz persönlichen Bedarf „erfunden" (KSA 2, 15, 5-9).
Den Typus des Freigeists hatte N. bereits 1873 in der Schrift Die Philosophie
im tragischen Zeitalter der Griechen in Euripides und Anaxagoras gesehen. Da
er beide noch kurz vorher, in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik,
zusammen mit Sokrates als Repräsentanten einer rationalistischen Aufklärung
abgelehnt hatte, lässt sich schon in der so kurze Zeit später stattfindenden
Wendung zu einer positiven, ja bewundernden Würdigung der Freigeister Euri-
pides und Anaxagoras eine entgegengesetzte, aufklärerische und am Ideal des
 
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