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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0040
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Überblickskommentar 25

„Das gefürchtete Auge". Darin ist die Rede von der Furcht vor der Entde-
ckung des „kleinen Betrugs", auch von der „unschuldigen Lust an sich
selber oder zum Effect-machen" (195, 23-26). Mit einem Seitenblick auf sein
eigenes Unternehmen ironisiert er Künstler, Dichter und Schriftsteller, die ei-
nen „Alltags-Gedanken", der als „Diebstahl an aller Welt" erscheinen könnte,
„dehnen, kürzen, färben, einwickeln, würzen mussten, um Etwas aus ihm zu
machen" (196, 3-5).
N. kannte eine bedeutende Tradition unsystematischen, ,offenen' Schrei-
bens in Kurz-Texten. Schon in seinen frühen Schriften beruft er sich immer
wieder auf Lichtenberg, der mit seinen Sudelbüchern eine Sammlung experi-
menteller Gedanken hinterließ. N. hatte sie als Bestandteil einer achtbändigen
Lichtenberg-Ausgabe für seine persönliche Bibliothek erworben (Lichtenberg
1867). In der Romantik, bei Novalis wie bei Friedrich Schlegel, hatte eine be-
wusst fragmentarisch gehaltene Inszenierung von ,Ideenparadiesen' große Be-
deutung gewonnen. Und von Giacomo Leopardi (1798-1837), der N. schon von
Schopenhauer her als Repräsentant eines tiefen Pessimismus bekannt war und
dessen Gedicht L'Infinito den letzten Text der Morgenröthe inspirierte, hatte er
1878, also kurz vor Beginn der Arbeit, neben einer deutschen Übersetzung der
Gedichte auch eine deutsche Auswahlausgabe von vermischten ,Gedanken' ge-
schenkt bekommen (Leopardi 1878). Leopardis Operette morali (,Kleine morali-
sche [moralistische] Werke'), die in diesen Band eingingen, waren 1827 erschie-
nen. Dagegen kannte N. ebensowenig wie Schopenhauer die Pensieri di varia
filosofia e di bella letteratura (,Gedanken über Verschiedenes aus der Philoso-
phie und der schönen Literatur'), die Leopardi von 1817 bis 1832 verfasst hatte,
die aber erst 1898-1907 unter dem bezeichnenden Titel Zibaldone (,Sammelsu-
rium') erschienen, den Leopardi selbst notiert hatte.
Die in einem allgemeineren Sinn als ,Stil' zu bezeichnende sprachliche
Form ist, wie in allen Werken N.s, markant rhetorisch. Anders als die argumen-
tierenden philosophischen Dialoge Platons, als die nach den therapeutischen
Rezepten der mittleren Stoa (Panaitios, Poseidonios) eindringlich meditieren-
den Selbstgespräche Mark Aurels, die N. hoch hielt, anders auch als Epikurs
auf private Selbstsorge gestimmte, gänzlich untheatralische ,Garten'-Philoso-
phie, die N. gleichwohl liebte, inszeniert er eine überlebendige Betroffenheits-
prosa mit erregten Ausrufen und Fragen (und der entsprechenden Zeichenset-
zung), mit Ellipsen, Anakoluthen, Interjektionen, asyndetischen Wortkaska-
den, Apostrophen, die ebenso wie die durch Gedankenstriche angedeuteten
atemlosen - oder atemholenden - Sprechpausen unmittelbare Sprechsituatio-
nen simulieren. N. war sich der Problematik dieses Stils durchaus bewusst.
Ende Juli 1877 schrieb er an Carl Fuchs: „Unter den gefährlichen Nachwirkun-
gen W<agner>'s scheint mir ,das Lebendig-machen-wollen um jeden Preis' eine
 
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