Überblickskommentar 29
die avisierten neuen fünf Bücher erschienen dann unter dem Titel Die fröhliche
Wissenschaft - allerdings nicht auf einen Schlag: Die ersten vier Bücher publi-
zierte N. im August 1882, aber erst im Herbst 1886 arbeitete er am fünften Buch,
sodass die um dieses fünfte Buch erweiterte Neu-Ausgabe der Fröhlichen Wis-
senschaft erst 1887 veröffentlicht wurde.
Die drei großen Aphorismensammlungen bilden sowohl unter themati-
schen wie unter formalen Aspekten ein Ensemble. Thematisch steht dieses En-
semble ganz im Zeichen einer kritischen Loslösung von Vergangenem und ei-
ner Wende zur fortschrittlichen aufklärerischen Geisteshaltung. Damit hebt
sich diese Werk-Gruppe scharf vom Frühwerk ab: von der Geburt der Tragödie
und den Unzeitgemäßen Betrachtungen. In der unter dem Einfluss auf Wagners
verfassten Tragödienschrift bewegt sich N. noch in einer spätromantischen und
irrationalistisch dem „Geist der Musik" geweihten Sphäre. An den Beispielen
von Euripides und Sokrates lehnte der junge N. gerade die aufklärerische Rati-
onalität ab. Der nahezu systematisch angelegte Widerruf dieser frühen Position
zeichnet sich in Menschliches, Allzumenschliches markant ab (hierzu der Über-
blickskommentar zu GT). Die geistige Nähe zu Schopenhauer, dessen metaphy-
sische Grundkonzeption in der ,Welt als Wille und Vorstellung' N. in der Tragö-
dienschrift übernimmt und dem er noch in der dritten Unzeitgemäßen Betrach-
tung huldigt, weicht in den drei aufklärerisch programmierten Werken der
,mittleren' Schaffensphase einer distanzierten Betrachtung, im Bereich der
,Moral', der für die Morgenröthe zentral ist, sogar einer entschieden kritisch
geführten Auseinandersetzung.
Im Verhältnis zu den späteren Werken gibt es wesentliche Parallelen: zum
Zarathustra, dann vor allem zu Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie
der Moral, aber auch zur Götzen-Dämmerung und zum Antichrist. Im Zarathu-
stra verleiht N. der Subversion der nur scheinbar zeitlos gültigen moralischen
Wertungen ,Gut' und ,Böse' ein besonderes, auch durch die neue Orientierung
auf den „Willen zur Macht" befeuertes Pathos. Anschließend an die in der Mor-
genröthe entwickelten Gedanken, die ihrerseits schon in der griechischen So-
phistik vorhanden waren und von der aktuellen Freidenker-Bewegung reaktua-
lisiert wurden, stellt er fest: „Aber es gab andre Zeiten und ein andres Böses
und Gutes" (KSA 4, 47, 4 f.). Das Zarathustra-Kapitel ,Von tausend und Einem
Ziele' führt das Thema leitmotivisch durch. Es beginnt mit dem Satz: „Viele
Länder sah Zarathustra und viele Völker: so entdeckte er vieler Völker Gutes
und Böses. Keine grössere Macht fand Zarathustra auf Erden, als gut und
böse". Diese „Macht" ist nunmehr Ausdruck eines „Willens zur Macht", wie es
alsbald heißt (KSA 4, 75, 13 f.). Der „Wille zur Macht" setzt Werte fest, welche
die jeweiligen Moralen etablieren - in der Morgenröthe ist es noch die „Ge-
wohnheit", obwohl auch sie eine Macht ist und die „Sitte", die sich zur ,Moral'
die avisierten neuen fünf Bücher erschienen dann unter dem Titel Die fröhliche
Wissenschaft - allerdings nicht auf einen Schlag: Die ersten vier Bücher publi-
zierte N. im August 1882, aber erst im Herbst 1886 arbeitete er am fünften Buch,
sodass die um dieses fünfte Buch erweiterte Neu-Ausgabe der Fröhlichen Wis-
senschaft erst 1887 veröffentlicht wurde.
Die drei großen Aphorismensammlungen bilden sowohl unter themati-
schen wie unter formalen Aspekten ein Ensemble. Thematisch steht dieses En-
semble ganz im Zeichen einer kritischen Loslösung von Vergangenem und ei-
ner Wende zur fortschrittlichen aufklärerischen Geisteshaltung. Damit hebt
sich diese Werk-Gruppe scharf vom Frühwerk ab: von der Geburt der Tragödie
und den Unzeitgemäßen Betrachtungen. In der unter dem Einfluss auf Wagners
verfassten Tragödienschrift bewegt sich N. noch in einer spätromantischen und
irrationalistisch dem „Geist der Musik" geweihten Sphäre. An den Beispielen
von Euripides und Sokrates lehnte der junge N. gerade die aufklärerische Rati-
onalität ab. Der nahezu systematisch angelegte Widerruf dieser frühen Position
zeichnet sich in Menschliches, Allzumenschliches markant ab (hierzu der Über-
blickskommentar zu GT). Die geistige Nähe zu Schopenhauer, dessen metaphy-
sische Grundkonzeption in der ,Welt als Wille und Vorstellung' N. in der Tragö-
dienschrift übernimmt und dem er noch in der dritten Unzeitgemäßen Betrach-
tung huldigt, weicht in den drei aufklärerisch programmierten Werken der
,mittleren' Schaffensphase einer distanzierten Betrachtung, im Bereich der
,Moral', der für die Morgenröthe zentral ist, sogar einer entschieden kritisch
geführten Auseinandersetzung.
Im Verhältnis zu den späteren Werken gibt es wesentliche Parallelen: zum
Zarathustra, dann vor allem zu Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie
der Moral, aber auch zur Götzen-Dämmerung und zum Antichrist. Im Zarathu-
stra verleiht N. der Subversion der nur scheinbar zeitlos gültigen moralischen
Wertungen ,Gut' und ,Böse' ein besonderes, auch durch die neue Orientierung
auf den „Willen zur Macht" befeuertes Pathos. Anschließend an die in der Mor-
genröthe entwickelten Gedanken, die ihrerseits schon in der griechischen So-
phistik vorhanden waren und von der aktuellen Freidenker-Bewegung reaktua-
lisiert wurden, stellt er fest: „Aber es gab andre Zeiten und ein andres Böses
und Gutes" (KSA 4, 47, 4 f.). Das Zarathustra-Kapitel ,Von tausend und Einem
Ziele' führt das Thema leitmotivisch durch. Es beginnt mit dem Satz: „Viele
Länder sah Zarathustra und viele Völker: so entdeckte er vieler Völker Gutes
und Böses. Keine grössere Macht fand Zarathustra auf Erden, als gut und
böse". Diese „Macht" ist nunmehr Ausdruck eines „Willens zur Macht", wie es
alsbald heißt (KSA 4, 75, 13 f.). Der „Wille zur Macht" setzt Werte fest, welche
die jeweiligen Moralen etablieren - in der Morgenröthe ist es noch die „Ge-
wohnheit", obwohl auch sie eine Macht ist und die „Sitte", die sich zur ,Moral'