Überblickskommentar 31
sene Notate vor allem aus den Jahren 1887 und 1888 bestimmt. Doch hat N.
das von ihm mehrmals projektierte „Hauptwerk" Der Wille zur Macht nicht aus-
geführt: Das über Jahrzehnte hinweg verbreitete vorgebliche Hauptwerk ist le-
diglich eine spätere Kompilation nachgelassener Notate. Immer wieder, beina-
he leitmotivisch, hebt N. in der Morgenröthe auf das „Gefühl der Macht" ab,
das er im Sinne einer positiven, weil schon individuell als Steigerung der Le-
bensintensität zu verstehenden Erfahrung begreift, um dann in Nachlass-Nota-
ten aus der Entstehungszeit der Morgenröthe ausdrücklich den „Willen zur
Macht" anzuvisieren. Dabei spielt zwar noch der Willensbegriff Schopenhauers
herein, der, metaphysisch überhöht, einen elementaren Lebensdrang meint.
Doch kodiert N. diesen von Schopenhauer als unselig charakterisierten „Wil-
len" vom Negativen ins Positive eines gegen die Dekadenz gerichteten Willens
zum Leben um. In einem Brief an Franz Overbeck vom 7. April 1884, also aus
der Zarathustra-Zeit, schrieb N.: „Beim Durchlesen von ,Morgenröthe' und
,fröhlicher Wissenschaft' fand ich übrigens, daß darin fast keine Zeile steht,
die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathu-
stra dienen kann. Es ist eine Thatsache, daß ich den Commentar vor dem
Text gemacht habe" (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 504). Nachdem N. im Zarathustra-
Kapitel „Von der Selbst-Ueberwindung" den „Willen zur Macht" programma-
tisch verkündet hatte (KSA 4, 146-149), gibt er in der auf den Zarathustra fol-
genden Schrift Jenseits von Gut und Böse folgende Definition - zwar in Form
einer Hypothese, aber doch als seine ebenso problematische wie entschiedene
These: „Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die
Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären -
nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist -; gesetzt, dass man alle
organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und
in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung - es ist Ein
Problem - fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende
Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen
gesehen [!], die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter' [!] hin bestimmt und
bezeichnet - sie wäre eben ,Wille zur Macht' und nichts ausserdem" (Zweites
Hauptstück: der freie Geist, JGB 36, KSA 5, 55, 23-34).
In formaler Hinsicht ist zwar auch in den auf die großen Aphorismen-
sammlungen der mittleren Phase folgenden Werken oft eine mehr oder weni-
ger deutliche aphoristische Struktur zu beobachten, doch wendet sich N. wie-
der mehr der Abhandlungs- und Traktat-Form zu. Also sprach Zarathustra ist
ein Sonderfall, aber in den Sprüchen Zarathustras setzt sich auch noch der
sentenziöse Duktus fort, nunmehr allerdings im prophetischen Verkündigungs-
ton. Generell lässt sich gegenüber dem aufklärerisch an der Wissenschaft und
am Gedankenexperiment ausgerichteten Stil der Morgenröthe und der Fröhli-
sene Notate vor allem aus den Jahren 1887 und 1888 bestimmt. Doch hat N.
das von ihm mehrmals projektierte „Hauptwerk" Der Wille zur Macht nicht aus-
geführt: Das über Jahrzehnte hinweg verbreitete vorgebliche Hauptwerk ist le-
diglich eine spätere Kompilation nachgelassener Notate. Immer wieder, beina-
he leitmotivisch, hebt N. in der Morgenröthe auf das „Gefühl der Macht" ab,
das er im Sinne einer positiven, weil schon individuell als Steigerung der Le-
bensintensität zu verstehenden Erfahrung begreift, um dann in Nachlass-Nota-
ten aus der Entstehungszeit der Morgenröthe ausdrücklich den „Willen zur
Macht" anzuvisieren. Dabei spielt zwar noch der Willensbegriff Schopenhauers
herein, der, metaphysisch überhöht, einen elementaren Lebensdrang meint.
Doch kodiert N. diesen von Schopenhauer als unselig charakterisierten „Wil-
len" vom Negativen ins Positive eines gegen die Dekadenz gerichteten Willens
zum Leben um. In einem Brief an Franz Overbeck vom 7. April 1884, also aus
der Zarathustra-Zeit, schrieb N.: „Beim Durchlesen von ,Morgenröthe' und
,fröhlicher Wissenschaft' fand ich übrigens, daß darin fast keine Zeile steht,
die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathu-
stra dienen kann. Es ist eine Thatsache, daß ich den Commentar vor dem
Text gemacht habe" (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 504). Nachdem N. im Zarathustra-
Kapitel „Von der Selbst-Ueberwindung" den „Willen zur Macht" programma-
tisch verkündet hatte (KSA 4, 146-149), gibt er in der auf den Zarathustra fol-
genden Schrift Jenseits von Gut und Böse folgende Definition - zwar in Form
einer Hypothese, aber doch als seine ebenso problematische wie entschiedene
These: „Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die
Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären -
nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist -; gesetzt, dass man alle
organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und
in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung - es ist Ein
Problem - fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende
Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen
gesehen [!], die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter' [!] hin bestimmt und
bezeichnet - sie wäre eben ,Wille zur Macht' und nichts ausserdem" (Zweites
Hauptstück: der freie Geist, JGB 36, KSA 5, 55, 23-34).
In formaler Hinsicht ist zwar auch in den auf die großen Aphorismen-
sammlungen der mittleren Phase folgenden Werken oft eine mehr oder weni-
ger deutliche aphoristische Struktur zu beobachten, doch wendet sich N. wie-
der mehr der Abhandlungs- und Traktat-Form zu. Also sprach Zarathustra ist
ein Sonderfall, aber in den Sprüchen Zarathustras setzt sich auch noch der
sentenziöse Duktus fort, nunmehr allerdings im prophetischen Verkündigungs-
ton. Generell lässt sich gegenüber dem aufklärerisch an der Wissenschaft und
am Gedankenexperiment ausgerichteten Stil der Morgenröthe und der Fröhli-