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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0047
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32 Morgenröthe

chen Wissenschaft der Übergang zu einem härter thetischen und apodiktischen
Stil feststellen. Aus dem in ungewisse Abenteuer fortschwebenden „Luft-
Schifffahrer des Geistes" wird trotz dem gelegentlich eponierten Gestus der
Selbstaufhebung eine mehr und mehr mit gesetzgeberischer Attitüde und dezi-
sionistischer Entschlossenheit auftretende Sprecher-Figur.
Erstes und zweites Buch
Die ersten beiden Bücher haben ihren Schwerpunkt in einer radikalen Kritik
der Moral, insbesondere der christlichen. N. stellt fest, dass sie im Laufe der
Jahrhunderte von den Menschen internalisiert und habitualisiert wurde. Die
auf diese Weise entstandenen Vorstellungen, Denkformen, Sitten und Wertun-
gen als vorurteilshaft zu entlarven und durch psychologisierende Analyse ad
absurdum zu führen, ist sein Hauptanliegen. Zwar nimmt er auch wohlbekann-
te ,Nummern' der kirchen- und religionskritischen Aufklärung des 18. Jahrhun-
derts auf, etwa die Angriffe auf den Wunderglauben, die Gnadenlehre, die bis
zur Hölle reichenden Strafdrohungen und die Dogmen, und er bezieht die
durch die historische Bibelkritik ans Licht gebrachten Fragwürdigkeiten der
Überlieferung ein. Dennoch geht seine Absicht darüber hinaus, und dies nicht
nur, weil er religions- und bibelkritische Werke des 19. Jahrhunderts studierte,
welche diese Art von Aufklärung radikalisierten. Die Leidenschaft, mit der er
sich dieses Themas bemächtigte und die sich später bis zum „Gesetz wider das
Christenthum" am Ende des Antichrist steigerte (KSA 6, 254), verrät auch, dass
er aus persönlicher Betroffenheit etwas abzuarbeiten hatte. Er musste sich von
seinen eigenen christlichen Prägungen befreien, ähnlich wie er sich, nach ur-
sprünglich fast vollständiger Identifikation, von Schopenhauer und Wagner lö-
sen musste. N. stammte aus einem protestantischen Pfarrhaus und studierte in
seinem ersten Semester neben der klassischen Philologie auch Theologie. Wie
so viele Theologen vor ihm gewann er gerade durch dieses Studium sowie
durch das daraus entstehende Interesse für religionskritische Fragestellungen
Distanz zum Christentum. Auch beeindruckte ihn Goethes und Heines Verurtei-
lung des leib- und sinnenfeindlichen christlichen Spiritualismus sowie die Ab-
lehnung der christlichen Sündenlehre, welche die Natur des Menschen als fun-
damental sündhaft begriff und daraus die entsprechenden Erlösungs-Bedürf-
nisse, Gnaden-Erfordernisse und Moral-Lehren ableitete. Pascal, an dessen
Pensees schon der Untertitel der Morgenröthe erinnert („Gedanken über die mo-
ralischen Vorurtheile"), beschäftigte ihn, weil er in ihm ein Opfer der Qualen
sah, die das Christentum besonders in der Empfindungs- und Gedankenwelt
religiös geprägter Menschen verursachen konnte. Mit dieser Absicht paradig-
matisiert er Pascal schon im ersten Buch der Morgenröthe in einer ganzen An-
 
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